Alles schläft. Wir laufen. Nach wenigen Minuten haben wir die äußeren Ansiedlungen von Ośno Lubuskie erreicht. (Foto: Jörg Levermann)
Alles schläft. Wir laufen. Nach wenigen Minuten haben wir die äußeren Ansiedlungen von Ośno Lubuskie erreicht. (Foto: Jörg Levermann)

Es ist 4:35 Uhr als wir auf dem Rathausplatz der polnischen Kleinstadt Ośno Lubuskie stehen und Alex das Foto zum Start des zweiten Partnerschaftslauf nach Eichwalde schießt. Die Sonne kriecht schon über den Horizont und taucht die Stadtkulisse in weiches Licht. Genug Licht zum Fotografieren. Das ist auch der Grund, warum wir entgegen unseren Plänen eine halbe Stunde später starten. Ośno Lubuskie ist die Partnerstadt der Gemeinde Eichwalde, direkt an der Berliner südöstlichen Stadtgrenze gelegen. Ziel dieses Laufes ist es, die Städtepartnerschaft auch auf sportlichem Gebiet zu intensivieren. Unser Ziel ist das Festzelt auf dem Rosenfest in Eichwalde. 

Knapp zwei Minuten später traben wir los. Wir, das sind die Mauerwegläufer Bernd Kutz, Thomas Meier und Jörg Levermann. Mit von der Partie sind Hajo Palm, der im vergangenen Jahr den Badwater Ultramarathon durchs Death Valley, dem Tal des Todes in den USA, meisterte und Gerd Teichert, ebenfalls erfahrener Ultramarathonläufer. Die Mauerwegläufer Simon Taylor und Alexander von Uleniecki verpflegen uns etwa alle zehn bis zwölf Kilometer. Alex wird später etwa bei Kilometer 50 mit uns weiter laufen, während Thomas bei der Verpflegung unterstützen wird.

Unterwegs auf einem Jakobsweg

Idyllisch gelegen ist der See Jezioro Czyste Wielkie ganz in der Nähe von Ośno Lubuskie.
Idyllisch gelegen ist der See Jezioro Czyste Wielkie ganz in der Nähe von Ośno Lubuskie.

Es ist traumhaft durch die zunächst flache, dann leicht hügelige Landschaft zu traben. Eine eigenartige Stille und Ruhe liegt in der Luft. Die Temperaturen sind angenehm, der Himmel ist bedeckt. Die Route führt fast ausschließlich auf dem Jakobsweg Richtung Westen. Nach wenigen Minuten erreichen wir schon die Häuser an der Stadtgrenze. In gemütlichem Laufschritt geht es vorbei am einem idyllisch im Wald gelegenen See, den einheimische Jezioro Czyste Wielkie nennen. Es ist erst kurz nach fünf, als wir im Vorbeilaufen den einsamen Angler am See einen guten Morgen wünschen. Viele Polen hatten sich den Freitag frei genommen. Denn der Donnerstag war in Polen Feiertag. Wohl auch deshalb hatte sich vor unserem Lauf keine Gelegenheit gegeben, mit dem Stanisław Kozłowski zu sprechen, dem Bürgermeister von Ośno Lubuskie.

Die Kirche in Lubiechnia Mala wurde um 1670 erbaut. (Foto: Jörg Levermann)
Die Kirche in Lubiechnia Mala wurde um 1670 erbaut. (Foto: Jörg Levermann)

Die Strecke führt uns weiter nach Lubiechnia Mała (Klein Lübbichow), einem winzigen Dorf, südlich von Ośno. Die mittelalterliche Kirche in Fachwerk und ursprünglich in Lehmbauweise errichtet bekam wohl erst vor kurzer Zeit ein neues Dach aus EU-Mitteln spendiert. Sie ist sicher etwas ganz Besonderes für diesen Ort. Gerne würde ich mir sie genauer anschauen, aber ich muss weiter, die Gruppe ist schon außer Sichtweite und womöglich schon fast am ersten Verpflegungspunkt.

Team Ośno-Eichwalde 2014 (Foto: Jörg Levermann)
Team Ośno-Eichwalde 2014 (Foto: Jörg Levermann)

Nach wenigen Minuten hole ich sie ein. Wir lassen die Wälder des Sternberger Landes hinter uns, Wiesen und Äcker säumen unseren die Strecke. Immer wieder laufen wir an den Kennzeichen des Jakobswegs vorbei, der Jakobsmuschel auf blauem Grund.

Eigentlich gibt es gar nicht DEN Jakobsweg. Vielmehr ist es ein ganzes Netz von Pilgerrouten durch ganz Europa, die durch Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ erst wieder richtig bekannt wurden. Darin beschreibt er seine Reise- und Lebenserfahrungen auf seiner Pilgerwanderung von Saint-Jean-Pied-de-Port in Südfrankreich nach Santiago de Compostella in Spanien pilgert, fast 600 Kilometer weit. Mich hatte das Buch einmal dazu inspiriert selbst auf Pilgertour zu gehen, nicht unbedingt aus religiöser Überzeugung, sondern vielmehr als eine Möglichkeit über sich selbst nachzudenken. Nur würde ich das lieber im Laufschritt machen. Und auch nicht in Spanien. Wozu auch. Es gibt in Polen und Deutschland reichlich längere Strecken auf den Jakobswegen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hajo ist es zu kalt

Klatschmohn inspiriert zur Fotografie. (Foto: Jörg Levermann)
Das satte Rot und saftige Grün lässt uns unsere Kameras zücken. (Foto: Jörg Levermann)

Mit großem Hallo begrüßen uns Alex und Simon am ersten Verpflegungspunkt in Lubiechnia Wielka. Ganz beiläufig erwähnt Hajo, dass ihm die Temperatur um die elf Grad doch etwas kühl erscheint, während wir es als ganz angenehm empfinden. Wir halten uns auch nicht lange auf und traben gleich weiter. Die Route führt nun über weite Teile über wenig befahrene, asphaltierte Straßen nach Kowalów, wo wir eine stark befahrene Landstraße überqueren.

Storchenmama oder -papa nimmt keine Notiz von uns

Schnell lassen wir die laute Straße hinter uns und laufen weiter Richtung Starków, wo wir wieder einen Feld- und Waldweg unter unsere Füße bekommen, der uns nach Stare Biskupice führt. Mitten im Ort hat eine Storchenfamilie ihre Sommerresidenz. Die Storchenmama oder der Storchenpapa nimmt überhaupt keine Notiz von uns, als wir um kurz vor sieben durch das Dorf laufen. Schon im vergangenen Jahr habe ich mich gefreut, die Storchenfamlie hier zu sehen.

Damals war ich mit Bernd Kutz und Robert Kiewra, einem polnischen Marathonläufer, der uns bis nach Slubice begleitete. Schade, dass er diesmal nicht mit dabei ist. Trotz der sprachlichen Barriere – denn er spricht kein Englisch und wir kein Polnisch – hat es damals riesig Spaß gemacht mit ihm zu laufen. Irgendwie machte er es uns verständlich, dass er Briefträger sei und oft in den Dörfern rund um Ośno Lubuskie unterwegs ist. Ganz anders als bei uns, haben die Ortschaften einen zentralen Platz, an dem die Briefkästen der Bewohner aufgestellt sind. Also muss jeder Bewohner einige Meter Fußweg in Kauf nehmen, um an seine Post zu kommen.

Gegen acht Uhr erreichen wir den zweiten Verpflegungspunkt in Stare Biskupice. Jetzt sind es nur noch knapp zehn Kilometer bis nach Frankfurt an der Oder. Freudig begrüßen uns erneut Simon und Alex, verwöhnen uns mit allerlei Leckereien und frischen Getränken.  Und schon traben wir weiter nach Slubice. Die Strecke ist jetzt noch flacher. Schon bald erreichen wir die Vororte der polnischen Grenzstadt. Vorbei geht es am Polenmarkt, der noch vor wenigen Jahren aus diversen Holzhütten bestand. Durch einen Großbrand vor zwei Jahren wurde er total zerstört. Feuerwehrkameraden aus Frankfurt eilten den polnischen Kräften zur Hilfe, um den Brand unter Kontrolle zu bekommen.

Spaß am Laufen auf der Oder-Brücke. (Foto: Jörg Levermann)
Spaß am Laufen auf der Oder-Brücke. (Foto: Jörg Levermann)

Schon bald geht es im Jogging-Tempo über die Oderbrücke nach Frankfurt. Ich erinnere mich noch gut an mein kleines Laufabenteuer vom Oktober 2008. Damals startete ich hier allein zu einem Langstreckenlauf nach Eichwalde. Rund zehn Stunden hatte ich damals für die knapp 70 Kilometer lange Strecke gebraucht. Es war ein Experiment. Denn ich hatte als Verpflegung lediglich Haferflocken mit Rosinen, etwas Zucker und Salsz, ein paar geschmierte Brote und Wasser im Rucksack. Dagegen ist der Lauf heute in der Gruppe mit Verpflegungspunkten alle zehn Kilometer der wahre Luxus. Und außerdem wird es beim gemeinschaftlichen Laufen nie langweilig. Wir sind alle gut gelaunt und freuen uns auf die Verpflegung, nur wenige hundert Meter weiter in Frankfurt.

Hajo läuft lieber auf Asphalt

Ganz im Gegensatz zu Hajo sind wir recht froh, dass es dieses Jahr nicht so heiß ist, wie im vergangenen Jahr. Denn die Strecke entlang der Rosa-Luxemburg-Straße in Frankfurt steigt leicht an und zieht sich wirklich in die Länge. Schließlich sind wir schon mehr als vier Stunden unterwegs und haben gut 30 Kilometer in den Beinen. Hajo freut sich, endlich wieder Asphalt unter den Füßen zu haben. Ihm ist es schwer gefallen auf den weichen Sandböden der Wald- und Feldwege zu laufen. „Ich bin das überhaupt nicht gewöhnt“, erzählt er. Er gehe in Kreuzberg aus der Haustür und laufe fast immer auf gepflasterten oder asphaltierten Wegen in der Stadt. Inzwischen hat sich der Himmel deutlich zu gezogen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Regentropfen fallen. Aber es ist auch etwas wärmer geworden, was für Hajo sicherlich angenehmer ist. Nach rund drei Kilometern verlassen wir die Stadt und laufen durch den Rosengarten. Dort sehen wir zwar keine Rosen, aber der Wald ist trotzdem schön. Wir freuen uns schon darauf, die Marathonmarke am Verpflegungspunkt in Pillgram zu knacken. Thomas läuft noch bis zum fünften Verpflegungspunkt am Bahnhof Briesen mit uns und wechselt dann mit Alex.

Unterwegs mit dem Zickenfuß

Nun wird es schwer für mich. Der rechte Fußballen stellt sich zickig an. Sei es eine Unebenheit, ein Stein, ein Stück Holz, auf das ich trete, jedes Mal gibt es einen kurzen aber sehr unangenehm steckenden Schmerz, der mich schlagartig humpeln lässt. Sekunden später ist er weg. Das nervt, mach mit wütend, denn jedes Mal komme ich aus dem Laufrhythmus. Die Gruppe zieht sich auseinander, ich versuche, den Anschluss nicht zu verlieren. Inzwischen kühlen kurze aber kräftige Regenschauer mein vom Schmerz erhitztes Gemüt. Ich erinnere mich noch gut, dass Alex beim Comrades Marathon kürzlich die gleichen Probleme hatte. Nur lief er die rund 90 Kilometer lange Strecke in den Barfußschuhen, den so genannten Five Fingers. Die Füßlinge haben gar keine Dämpfung und sollen eigentlich das Laufen auf dem Vorfuß fördern. Aber bei so langen Strecken lässt die Kraft in der Wadenmuskulatur einfach nach, so dass man in den Ultra-Schlappschritt verfällt und dann eben solche Nebenwirkungen des Langstreckenlaufens zu spüren bekommt.

Entsafter mit Wasser: Der Oder-Spree-Kanal ist eine mentale Herausforderung, weil er wenig landschaftliche Abwechslung bietet. Aber Hajo scheint es zu gefallen. (Foto: Jörg Levermann)
Entsafter mit Wasser: Der Oder-Spree-Kanal ist eine mentale Herausforderung, weil er wenig landschaftliche Abwechslung bietet. Aber Hajo scheint es zu gefallen. (Foto: Jörg Levermann)

Dabei haben wir das härteste Stück noch vor uns: der Oder-Spree-Kanal. Der Weg entlang dieser Wasserstraße ist zwar nicht hügelig oder anderweitig anspruchsvoll, ist aber mental eine Herausforderung. Denn er zieht sich einfach schnurgerade in die Länge, bietet kaum optische Reize. Rechts Kiefernwälder, links Wasser und unterwegs kaum eine Menschenseele unterwegs. Wie Kaugummi zieht es sich in die Länge. Und kein Ende abzusehen. Nur Hajo, dem scheint es zu gefallen.

Die Gruppe zieht sich auseinander. Alex läuft noch ganz locker. Aber der hat am Oder-Spree-Kanal gerade mal 30 Kilometer in den Beinen. (Foto: Jörg Levermann)
Die Gruppe zieht sich auseinander. Alex läuft noch ganz locker. Aber der hat am Oder-Spree-Kanal gerade mal 30 Kilometer in den Beinen. (Foto: Jörg Levermann)

Immer wieder kommt die Sonne durch die Wolkendecke und heizt unsere feucht-kühlen Laufklamotten auf. Ich beneide Alex, der ganz locker läuft und natürlich mit seinen Barfußschuhen unterwegs ist. Der Abstand zwischen ihm und mir wird immer größer. Immer wieder zickt der rechte Fußballen, bringt mich aus dem Trott.

Erst als wir die Schleuse in Waltersdorf erreichen, ist das mentale Tief überstanden. Im Kopf bin ich immer schon einige Kilometer weiter, male mir aus, wie es ist, schon über die Brücke in Schmöckwitz die Dahme zu überqueren. Simon ist schon mal vor gefahren zur Bahnhofstraße um uns ganz kurz vor dem Ziel, dem Festzelt eine Stärkung zu bieten.

Die letzten drei Kilometer vergehen wir im Flug. Vergessen sind der zickige Fußballen rechts, vergessen der stechende Schmerz. Ein letzter Snack, ein Schluck Cola, Apfelsaftschorle, dann traben wir durch die Menge der Besucher des Volksfestes auf der Bahnhofstraße vorbei an Würstchenbuden, Bierwagen. Eine geballte Ladung Knoblauchduft weht uns um die Nase als wir uns den Weg durch die Menge vorbei am Verkaufsstand von Knobi-Bobby bahnen. Feuerwehrkamerad Oliver Hein erwartet uns schon kurz vor dem Festzelt und fotografiert uns Ultra-Langstreckenläufer.

Endlich im Ziel. Vergessen sind Strapazen und Schmerzen. (Foto: Oliver Hein)
Endlich im Ziel. Vergessen sind Strapazen und Schmerzen. (Foto: Oliver Hein)

 

Schön, wie der Tanzboden unter unseren Füßen federt, als wir mit lockerem Laufschritt am staunenden Publikum vorbei Richtung Bühne traben. Ungläubig schauen uns die verdutzten Besucher des Festzeltes an, als Jörg Jenoch, Vorsitzender des Eichwalder Heimatvereins, unsere Ankunft im Zelt kommentiert und erklärt, dass wir heute in Ośno Lubuskie gestartet seien. Wir sind froh, es bis kurz vor dem Anpfiff des WM-Spiels Deutschland gegen Ghana geschafft haben. Wir geben noch ein kurzes Interview und freuen uns auf die Dusche in der Radelandhalle, welche die Gemeindeverwaltung öffnet.

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