111 Kilometer laufen – schöne Schnapszahl, aber eine Schnapsidee, sowas zu laufen? Ach, wir Ultralaläufer sind ja ohnehin übergeschnappt. Das dachte sich wohl auch Mauerwegläuferin Nina Blisse beim Borderland-Ultra Extrem – und finishte ihn nicht nur, sondern schnappte sich gleich mal den Titel bei den Damen. Hier ihr Bericht:

„Ich bin noch immer total geflasht von diesem Wochenende! Der Borderland Ultra ist ein ganz besonderer Lauf, eine ganz besondere Herausforderung. Eckhardt Seher hatte mir diesen Lauf wärmstens empfohlen und ans Herz gelegt. Ich bin sofort begeistert gewesen.

Als es hell wurde, konnte Autorin Nina Blisse auch endlich mal etwas von der schönen Strecke sehen.

Am Freitag sammelte Olaf Harald und mich ein und es ging nach Thüringen in das uns nichtssagende Streufdorf. Schon lange war ich vor einem Lauf nicht mehr so nervös und aufgeregt gewesen – und das aus zwei Gründen:

Zum einen war es für mich seit drei Jahren wieder das erste Mal, dass ich ohne Harald an den Start und damit auf die Strecke gehen sollte. Angepasst an seinen mehr oder weniger vorhandenen Trainingszustand hatte er sich „nur“ für die 69 km Variante entschieden. Olaf und ich wollten es jedoch wissen und entschieden uns für die 111 km lange Extrem-Variante. Ich bin zwar schon oft mit Olaf gelaufen und wir haben uns immer prima verstanden – sowohl läuferisch als auch persönlich – aber wie verhält es sich auf einer so langen Strecke, bei der wohl jeder an seine Grenzen stoßen wird?

Warnung vor der „verdammt schwierigen“ Strecke
Zum anderen hatte Eckhardt uns vor der Strecke „gewarnt“. Sie soll verdammt schwierig und anspruchsvoll sein. Da ich Eckhardt kenne, glaubte ich ihm auch aufs Wort – auch wenn ich es anhand des Streckenprofils nicht nachvollziehen konnte. Genau das sorgte für die größte Unruhe in mir. Was würde mich erwarten?

Auch die Streckenbeschaffung ist beim Borderland-Ultra streckenweise extrem.
Auch die Streckenbeschaffung ist beim Borderland-Ultra streckenweise extrem.

Wir waren mit die ersten, die in Streufdorf ankamen und sich die Startunterlagen abholten. Dabei stellte sich gleich die nächste Frage: Wann wollen wir starten? Es gab nämlich zwei Startgruppen: einmal um Mitternacht für die langsamen Läufer, und einmal um 2 Uhr für die schnelleren Läufer. Eigentlich waren Olaf und ich uns einig gewesen, dass wir eindeutig langsame Läufer sind. Doch dann kam der Hinweis, dass der erste VP nach der Marathon-Zusatzschleife – für uns also etwas bei km 50 – erst ab halb acht besetzt sein würde. Das Rattern in meinem Kopf begann und ich rechnete hin und her. Ich wollte dort einen VP haben, obwohl ich auch alles in meinem Rucksack gehabt hätte. Aber dieses mentale Pushen, das ich an einem VP immer erlebe, wollte ich mir nicht nehmen lassen. 7,5 Stunden für 50 km erschien mir aber verdammt viel zu sein, so dass ich einen Start um 2 Uhr in Erwägung zog. Würde ich die Strecke unterschätzen? Mein Gedankenkarussell setzte sich in Bewegung und ließ sich erst durch Olaf stoppen. Komme, was wolle, er startet auf jeden Fall um Mitternacht. Da ich nicht alleine laufen wollte, schloss ich mich ihm an.

Die Zeit bis zum Start vertrieben wir uns mit blöden Sprüchen und dem Spinnen neuer Ideen, denn an schlafen war nicht zu denken. Zu groß war die Aufregung und Nervosität. Die Zeit kann zwar langsam vergehen, aber sie bleibt zum Glück nicht stehen! Irgendwann war es Zeit, an den Start zu gehen, während Harald bereits im Zelt lag und schlief bzw. versuchte zu schlafen.

Schöne Strecke – gefühlt zumindest
Die meisten von den 111 km-Startern hatten sich für einen Start um Mitternacht entschieden, so dass ich zufrieden mit der von Olaf gefällten Entscheidung war. Trotzdem waren wir eine überschaubare Gruppe, in der keiner es eilig hatte. So kam es, dass Olaf und ich das Tempo vorgaben: gemütliches Lauftrefftempo. Damit führten wir die Gruppe rund 3 km lang an. Es ging über Felder, von denen wir aber nichts sahen. Es war so dunkel, dass wir nur dem Schein unserer Stirnlampe folgten. Ich fühlte mich gut und die Strecke gefiel mir, auch wenn ich nichts von ihr sah. Nach etwa 10 km bemerkte Olaf, dass wir ganz schön schnell wären. Sein Gefühl täuschte ihn wohl in der Dunkelheit, denn mit 6:45 bis 6:55 min/km hatten wir einen sehr gemütlichen „Schlurfschritt“. Kurze Zeit später kam der erste Berg – der Große Gleichberg – , der für uns nicht mehr laufbar war: 5 km und 400 Höhenmeter konstant bergauf. Nun war strammes Marschieren angesagt. Olaf und ich waren mittlerweile allein. Nur ab und zu ein kleines Licht über oder unter uns ließ auf weitere Läufer schließen. Da es noch immer mitten in der Nacht und somit stockfinster war, konnten wir keine Aussicht genießen. Stattdessen ging es gleich wieder bergab zum zweiten VP und Kontrollpunkt. Im Hellen wäre es ein toller Downhill gewesen; im Dunkeln mussten wir verdammt aufpassen und reduzierten unsere Geschwindigkeit dementsprechend.

13413529_1185399838171715_1282279544006391229_nNach dem VP ging es auf den kleinen Gleichberg – 3 km mit 300 Höhenmetern. Es waren die technisch anspruchsvollsten Kilometer des gesamten Laufes. Viele kleine und große Steine sowie Wurzeln auf schmalen Pfaden erforderten vollste Konzentration zu einer Zeit, in der man sich normalerweise im Tiefschlaf befindet.

Einmal Loch vorzeigen, bitte!
Ich fühlte mich gut bzw. mein Körper war so aufgedreht, dass er weder Müdigkeit noch Anstrengung verspürte. Doch Olaf schien Probleme zu haben und sah auch nicht gut aus. Ob das am Licht der Stirnlampe lag? Ich drosselte das Tempo, weil ich ihm keinen Druck machen wollte. Außerdem bemühte ich mich, ihm mit meiner Stirnlampe Licht zu spenden, da seine nicht besonders hell war. Oben angekommen, mussten wir unsere Kontrollkarte mit einer alten, verrosteten und stumpfen Lochzange lochen. Anschließend ging es den gleichen Weg wieder hinunter bis zu dem VP und Kontrollpunkt, an dem wir unser Loch vorzeigen mussten. Ich war verdammt froh, als wir diesen Punkt wieder erreichten. Olafs Probleme schienen immer größer zu werden und ich war heilfroh, dass wir diese schwierige Stelle unfallfrei gemeistert hatten.

Bis auf ein paar kleinere „Bodenwellen“ lagen die Höhenmeter der Marathon-Schleife hinter uns. Der Weg wurde eindeutig einfacher. Trotzdem klappte es bei Olaf nicht mit dem Traben. Was war da los? Ich musste ihn fragen! Ihm sei wahnsinnig schwindlig und kotzübel, war seine Antwort. Puh, das erklärte natürlich einiges. Er wollte mich losschicken, weil er für sich beschlossen hatte, dass er so nur noch wandern könne. Nein, das konnte ich nicht. So wollte ich ihn nicht alleine in der Dunkelheit zurücklassen. Also marschierten wir gemeinsam.

13411940_10157024207985652_5798374547049689500_oMeine Gedanken kreisten: Hoffentlich geht es ihm bald besser! Ich möchte doch den Lauf mit ihm gemeinsam beenden! Und gleichzeitig meine größte Befürchtung: Ich möchte nicht die restlichen 90 Kilometer alleine laufen müssen!! Also begann ich zu rechnen, denn wir mussten die Marathon-Schleife spätestens um 8 Uhr beendet haben. Besser wäre jedoch um 7 Uhr, so dass wir mit den „Normalen“ Ultras auf die andere Runde gehen konnten. Beides war noch machbar und vielleicht geht es Olaf ja auch bald wieder besser, sagte mir mein Optimismus (den ich bisher noch nie kennengelernt hatte). Leider wurde es bei ihm nicht besser und ich musste mir einen Plan B einfallen lassen: Da Olaf definitiv nach der Marathon-Schleife aufhören wollte (was auch eine sehr vernünftige Entscheidung war in seiner Situation), wollte ich unbedingt vor 7 Uhr bei Start und Ziel sein, um die weitere Strecke mit Harald gemeinsam laufen zu können.

Tempoprobleme und schlechtes Gewissen
In meinem Kopf wälzte ich die Zahlen hin und her. Ich addierte, multiplizierte und dividierte wieder, während ich ungeduldig und langsam weiter des Weges ging. Aber mein „Langsam“ war ein zu „schnell“ für Olaf. Immer wieder meinte Olaf, ich könne weiter laufen und ihn alleine lassen. Einerseits wollte ich das nicht und andererseits machte es zu diesem Zeitpunkt auch noch keinen Sinn. Ich wäre viel zu früh wieder bei Start und Ziel gewesen. Bis Kilometer 31 war es für mich ein Gehen – Warten – Gehen – Warten. Dann sagte mir meine Uhr, dass ich wieder in den Laufschritt wechseln sollte, um rechtzeitig bei Harald zu sein. Für die noch verbleibenden 12 km bis zum Start blieben mir etwas mehr als 90 Minuten. Normalerweise sollte das locker machbar sein, da ich mir aber nicht sicher war, ob noch ein großer Berg kam oder nicht, beeilte ich mich lieber. Mit einem unguten Gefühl und schlechtem Gewissen, weil ich mir verdammt schäbig vorkam Olaf alleine zu lassen, was ich zudem so auch gar nicht wollte, fing ich wieder an zu laufen. Ich versuchte es ruhig, denn mir standen ja insgesamt noch gut 80 Kilometer bevor. Es funktionierte aber nicht. Immer wieder stand als erste Zahl eine Fünf auf meiner Uhr – ich war viel zu schnell. Würde das gut gehen?

Ich lief zwei anderen Läufern auf und wollte mich ihnen anschließen, um eine bessere Kontrolle über mein Tempo zu bekommen. Doch sie waren mir mit einer 8er Pace viel zu langsam. So ließ ich auch sie hinter mir und zog weiter. Der Weg war nicht mehr schwer. Es ging über Felder und Wiesen, es ging etwas hoch und wieder runter, aber ein richtiger Berg, der mich zu einer Gehpause gezwungen hätte, kam nicht mehr.

Er ist schon da? Wieso ist er schon da?
Gegen halb sieben erreichte ich den Start- und Zielbereich, wo ich von Harald und Patricia mit den Worten „Olaf ist schon seit kurz nach sechs Uhr da!“ empfangen werde. Wie bitte? Hatte ich mich verhört? Wie kann es sein, dass Olaf vor mir hier ist, wo er den Rest der Strecke wandern wollte und mich auch nicht überholt hatte? Ich fragte noch einmal nach. Beide bestätigten mir jedoch nochmals, dass Olaf bereits da sei und gerade duschen würde. Ich verstand die Welt nicht mehr, als Olaf plötzlich frisch geduscht vor mir stand und mich aufklärte. Er war am letzten VP – zwei Kilometer nachdem ich ihn verlassen hatte – ausgestiegen und mit dem Auto mitgenommen worden. Nun verstand auch ich! Gefühlt fielen mehrere Felsblöcke von mir ab, weil ich Olaf „nur“ für zwei Kilometer alleine gelassen hatte und es ihm – den Umständen entsprechend – gut ging. Nun konnte ich mir in aller Ruhe frische Sachen anziehen und etwas frühstücken. Anschließend wartete ich gemeinsam mit Harald und Patricia auf den Startschuss.

Erst habe ich mit den Füßen getrampelt, weil die Minuten nicht vergehen wollten und dann überraschte mich der Startschuss komplett. Alles rannte los und ich zum Schluss hinterher. 😉

13412934_1185399634838402_4971979136002613746_nIch hatte mich auf einen gemütlichen Lauf mit Harald in unserem Lauftrefftempo eingestellt. Doch nach nicht einmal einem halben Kilometer war kein Harald mehr neben mir. Ich entdeckte ihn einige hundert Meter vor mir. Obwohl meine Uhr mir eine 6er Pace bescheinigte, kam ich nicht an ihn heran. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen uns wurde immer größer. Schneller ging bei mir aber nicht. Ich hatte große Probleme, nach der Pause wieder meinen Rhythmus zu finden. Normalerweise werde ich immer ziemlich panisch – und auch zickig – wenn Harald mir auf und davon läuft. Diesmal verspürte ich aber keinerlei solcher Anzeichen. In mir strahlte eine Ruhe und Gelassenheit, die mir auch noch sagte: „Es dauert nicht lange und dann musst du auf ihn warten.“ Ich muss schon zugeben, es war eine ziemlich freche, fiese und überhebliche Stimme in mir, denn im Gegensatz zu Harald hatte ich ja bereits knapp 45 km in den Beinen…

Ein ständiges Auf und Ab
Als jedoch der erste heftige Anstieg – hinauf zum ersten VP – kam, hatte ich Harald wieder eingeholt und wir liefen wie gewohnt nebeneinander her. Den anschließenden Downhill genossen wir, gaben kräftig Gas und sammelten diverse Läufer wieder ein.

Die Strecke gefiel mir sehr. Es war ein ständiges Auf und Ab, wobei die sowohl die An- als auch Abstiege knackig steil waren. Vor allem auf dem Kolonnenweg, der uns auf gut 25 km begleitete, musste man aufgrund der scharfkantigen Löcher sehr konzentriert laufen. Es bergab „rollen“ zu lassen, hätte sehr leicht zu einem bösen Sturz und dem sofortigen Aus führen können.

Diese kurzen knackigen Anstiege und der damit verbundene ständige Rhythmuswechsel lagen mir sehr und machten mir viel Spaß. Haralds Ding ist das überhaupt nicht (er liebt nicht ganz so steile, dafür nicht enden wollende Anstiege), und schon gar nicht in seinem bescheidenen Trainingszustand. Meinem forschen, strammen Schritt den Berg hinauf konnte Harald nicht folgen. „Nicht so schnell“, hörte ich ihn von hinten rufen. Langsamer war mir aber sehr unangenehm. „Mach dein Tempo, ich warte oben“, rief ich stattdessen zurück. Das mag dem ein oder anderen vielleicht überheblich vorkommen. So war es aber überhaupt nicht gemeint. Das langsamere Tempo wäre für mich deutlich anstrengender geworden und 111 km schüttele ich auch nicht so einfach aus dem Ärmel. Eine kurze Pause hingegen war für mich sehr wohl eine Möglichkeit zum Verschnaufen. Und die innere Ruhe und Gelassenheit besaß ich noch immer. Außerdem konnte ich so noch mehr die Strecke und die Landschaft genießen! Beim Laufen – ja, das kam auch vor – konnte ich mich sehr gut anpassen und wir trotteten gemütlich vor uns hin. Es versteht sich von selbst, dass wir dabei auch jede Menge Spaß hatten. Eine gewisse Portion Galgenhumor musste natürlich auch sein, aber wie sollte es bei so langen Läufen auch anders sein?

Hart erarbeitet: Der Damen-Pokal für die schnellste Frau auf der 111-Kilometer-Strecke.
Hart erarbeitet: Der Damen-Pokal für die schnellste Frau auf der 111-Kilometer-Strecke.

Am Ende erreichten wir beide aber mit einem Lächeln und nicht weniger stolz das Ziel in Streufdorf – nach langen 17,5 Stunden (für mich jedenfalls). Trotzdem belegte ich damit den 1. Platz in der Frauenwertung. Die Siegerehrung hatte ich allerdings um knapp zwei Stunden verpasst… 😉

Fazit:

Es ist ein toller, kleiner Lauf (klein aufgrund der Teilnehmerzahl und nicht aufgrund der Kilometer), der von einem Mini-Team mit sehr viel Liebe und Herzblut organisiert wird. Die Strecke ist vom Untergrund, der Wegbeschaffenheit und dem Höhenprofil her nicht einfach, auch wenn die nackten Zahlen etwas anderes vermuten lassen.

Es gibt viele VPs entlang der Strecke, die mal zu früh und mal spät kommen, aber nie dann, wenn man mit ihnen rechnet. Sie werden aber alle sehr liebevoll und engagiert betreut!

Schade war, dass es aufgrund eines Oldtimertreffens ab 16 Uhr keine Duschmöglichkeit mehr gab. Auch war der Boiler in der Turnhalle (die nur einen Waschraum, aber keine Dusche hatte) bereits vom Strom getrennt, so dass meine Körperpflege mit Kaltwasser doch sehr spartanisch ausfiel.

Nächstes Jahr feiert der Borderland-Ultra seine 5. Auflage, zu der es auch einen 100-Meiler geben soll. Na, wem fehlt noch ein Saisonhighlight für 2017? Mich wird es auf jeden Fall noch einmal nach Streufdorf verschlagen, dann aber bitteschön in Begleitung von zwei gesunden und trainierten Vereinskameraden! :-)“

Text und Fotos: Nina Blisse