Herzlichen Glückwunsch an Andrea Möhr! Ihre Ausbeute von den 24 Stunden im Regen und Matsch von Fleestedt: Gesamtsieg bei den Damen und mit 147,8 Kilometern knapp unter dem Streckenrekord! Nur vier Männer hatten mehr Kilometer gesammelt. Geizen wollte Andrea diesmal nur mit den Worten: Sie hat einen deutlich kürzeren – aber nicht minder spannenden – Bericht verfasst als sonst…
„Sigrid sagt: „Laufen ist keine Mathematik“. Von wegen: Ich war nur am Rechnen, Addieren, Zählen und Maßeinheiten-Sortieren, Stunden und Kilometer, Liter in Regen, Quadratmeter Matsch auf der Strecke, 22 Höhenmeter je Runde, Kilo Matsch im Schuh und alle 100 Meter ein Streckenschild, jede Runde 1,7 Kilometer, Läuferuhr und dann noch einen Mann, der wie Rumpelstilzchen umher läuft und mich auch alle 1,7 Kilometer mit Rückstand in Metern und Vorsprung in Minuten konfrontiert. Die ersten 60 Kilometer ohne Vorkommnisse. Ich bin erstaunt, über den fiesen Anstieg – über 200 Meter lang, schräg und matschig -, Spurrillen, Rinnsale, tausende große spitze Steine auf den ersten 900 Metern durch den Wald. Aber das mit den Schmerzen in den Fußsohlen hatte ich schon beim Mauerweglauf, sollte mich jetzt nicht umhauen. Der zweite Abschnitt auf Asphalt geht leicht bergab. Wenn nicht die starken Böen wären (natürlich von vorn), könnte man hier richtig flott laufen. Wieder eine klitzekleine Steigung und ab in das Fußballstadion, wo die Wiese unter Wasser steht. Irgendwie nehme ich dieses Jahr so krasse Wetter mit wie in Ośno, Thüringen Ultra und Mauerweglauf mit über 30 Grad oder jetzt mit Dauerregen über 7 Stunden in der Nacht. Kann es nicht einfach nur mal schön sein?
Als mir abends kalt wurde, habe ich mir meine 30 Grad Wohlfühltemperatur selbst bereitet: Regenhose an. Darunter ist es warm wie im Brutkasten, meine Beine haben es mir lange ohne Schmerzen gedankt.
Ziel war Platz 1 in AK und Siegerpodest in der Gesamtwertung. Ich hatte die Damen durch die DUV-Statistik gejagt, deshalb konnte ich das so einschätzen. Als Ziel A Plus war Streckenrekord über knapp 154 Kilometer. Leider um 5 Kilometer verpasst, sozusagen im Matsch „stecken geblieben“ oder „vom Winde verweht“.
Ich war am Anfang 8. gesamt und 3. in der AK. Nicht der Hit, die Erste hat nach ein paar Stunden 5 Kilometer Vorsprung. Norbert meint, die ist schnell, die ist weg und ich denke: Oder sie läuft sich kaputt…? Es dauert ein paar Regenstunden, bis ich endlich rosa auf dem Bildschirm erscheine, 1. AK 50, aber nur 4. gesamt. Die Läuferinnen vor mir allesamt AK 40, haben eine Runde Vorsprung. Ich denke, die jungen Hüpfer, denen muss ich wohl in den nächsten Stunden zeigen, was ich Alte so drauf habe. Dafür habe ich noch ein paar Stunden Zeit. Norbert ist bis um 6 Uhr schlafen gegangen. Nach seiner Rückkehr wollte ich ihm Gesamtrosa präsentieren. Ich lief auf Platz 2 vor und hatte eine halbe Runde Rückstand auf Platz 1, diesmal eine sympathische Läuferin aus Berlin. Ich entschloss mich zum ersten und einzigen Kleiderwechsel. Einmal komplett durchgewechselt bis auf Socken und Schuhe. In 17 min wieder auf der Strecke, schnelle Wechselzeit. Im Kopf: Jetzt raus und Angriff auf Platz 1 – Norbert kommt bald. Und …. Platz 4. Was? So schwer machen es mir die jungen 40er. Also das gleiche Spiel, laufen ohne Pause, Turbo-Pinkeln, Ideallinie einhalten. Jede Runde der Blick auf den Bildschirm, ohne stehen bleiben.
Norbert kommt dann gegen 6 und ich denke, er muss denken: Was hat sie die ganze Nacht gemacht? NUR Platz 2, 5 Kilometer Rückstand auf Platz 1, nur wegen dem Klamottenwechsel ….
Keine großen Probleme, Müdigkeit, die singe ich laut mit meinem neuen (!) MP3 Player weg. Norbert treibt mich, macht mir warmen Haferschleim, damit ich zum Trinken nicht anhalten muss. Ich komme mir vor wie bei den Profis. Sein warmer Babybrei nach der langen Nacht war der Hit. Die Salz- und Magnesiumtabletten sind nass geworden und zu einem Klumpen vereint. Als ich Salz brauchte, gab es das am Stück. Beim Vorbeilaufen schob er mir den Löffel in den Mund.
Übrigens hatte er noch unseren Tisch zuzüglich zum Zelt mit großem Koffer und Reisetasche dabei. Damit ich mich in der Nacht, wenn er schlafen muss, nicht bücken muss…. Wenn das nicht Liebe ist, was dann? Wir waren ja mit dem Zug hier.
Der Angriff auf Platz 1: Norbert kommt mit und liest mir beim fiesen Anstieg eure Posts vor. Ich bin gerührt und es kommen Tränen der Vorfreude. Meine Motivation: Ich wollte euch den Pokal nach Bernau mitbringen. Ranlaufen zu Platz 1 hat direkt Spaß gemacht, aber was, wenn ich vorne liege? Ich muss es ja auch verteidigen, gegen die Damen, die geschlafen haben und nun deutlich flotter unterwegs sind als ich. Ich plane: Ich ziehe meine Nachtjacke aus und das Vereinsshirt an. Alle sollen sehen, da ist die kleene Gelbe. Norbert hat es natürlich auch an. Also die nächste Bestellung aufgegeben. Nächste Runde: Gelbes Shirt, neue Batterie (Player bald alle) und eine Portion Brei, bitte, so viel Zeit muss sein. Player und alles, was in den Jackentaschen war, am Anstieg umgepackt. Jacke kurz vorher ausgezogen, wie immer im Vorbeilaufen das Shirt und die Batterie getauscht. Er ist wieder ein paar Meter mitgelaufen, um mir noch den Brei zu geben und mich mit einem Klaps anzustacheln. Jetzt hol sie dir: Ich komme um die Ecke und sehe sie: 200 Meter vor mir, sie hatte schon den fiesen Anstieg geschafft. Da ist Platz 1: Es läuft gerade zufällig und punktgenau im Player „Go for gold“. Mir kommen schon wieder die Tränen. Irgendwie muss ich immer heulen bei so emotionalen Sekunden. Ich wiederhole „Go for gold“ insgesamt dreimal, wie nennt man so einen Zufall? Das Lied im richtigen Moment.
Ich denke daran, dass ich Kay und Jörn Tipps für ihre ersten 24er in Bernau gegeben habe, ich darf es jetzt nicht vermasseln, das wäre peinlich…. Jetzt muss ich beweisen, dass die Tipps was taugen.
So nun bin ich vorbei, und nun? Noch 4,5 Stunden, ich muss laufen, laufen, laufen. Norbert erzählt allen Zeltnachbarn, Helfern und auch Zuschauern, dass ich führe. Er fotografiert die rosa Andrea auf dem Bildschirm und postet für euch. Ich kann ihn sehen, manches Mal habe ich keinen Wunsch und laufe so einfach vorbei, um ihn nicht zu stören. Ich kann seinen Stolz spüren.
Bei ungefähr 125 Kilometern und schon etwas Vorsprung dann mein Tiefpunkt: Ich führe und wenn ich gewinne, dann mit so wenigen Kilometern, also 150 Kilometer wäre doch wirklich das Mindeste. Ich bin ein Loser und denke, dass mich andere Läuferinnen belächeln. Sieg weg mit 139 Kilometer? Ich kann doch nicht dafür, wenn keine schneller ist… Ich bin so schnell unten mit den Emotionen wie ich oben war. Das ganze Trauerspiel hielt ein paar Runden an.
Bei Norbert wieder dann mal angekommen, denke ich, egal wie viele Kilometer, Norbert hat den Tisch mitgeschleppt, ob nun für 139 Kilometer oder für 145 Kilometer. Ich bin ihm jetzt den Sieg schuldig…
Die letzte Stunde: Er sagt, wenn du jetzt durchziehst, dann kommst du auf 145. Fühlt sich besser an wie 139 Kilometer. Oh, doch so weit? Bei der Matschepampe, dem Anstieg und dem Wind gar nicht sooo schlecht. Wir laufen die letzten beiden Runden zusammen. Das haben wir immer so gemacht. Er gibt mir Windschatten. Wir sprinten. Kein Witz. Die letzten Minuten. Ich wollte bis 1000 Meter laufen und dann stehen bleiben, bis das Signal kommt. Das wollte ich, doch was ich wollte, zählt nicht. Weiter, solange bis das Signal kommt, ruft er. 1200, 1400 Meter. Bis in das Stadion sind es 1600 Meter, der kleine Anstieg noch. Ich schaffe es in das Stadion. Ich renne, Trainer Andreas wäre stolz, wie hoch ich meine Beine geschleudert habe. Die Leute stehen am Rand und klatschen. Es wird runtergezählt 10, 9, 8 … Ich laufe bei 1700 über die Matte und eine Sekunde später das Signal. Gratulationen von Vielen, einen Schmatzer von Norbert und schon geht der Stress weiter, 30 Minuten bis zur Siegerehrung, wenig Zeit zum Duschen…. Der Weg dorthin 300 Meter. Norbert packt Koffer, müssen wir gleich im Anschluss zum Bahnhof rennen. Er hat Spätdienst und muss pünktlich auf Arbeit sein. Das war Teamwork auf allerhöchstem Niveau. Ich habe Norbert zum Dank versprochen, ihn nächstes Jahr in Roth zu betreuen und nicht selbst zu starten.
Als ich heute die Ergebnisse las wurde mir bewusst: Ich bin mit meinen ganz knapp 148 Kilometer 5. in der Gesamtwertung mit Männern geworden und wäre bei den Männern 2. in der AK 50. Da sag ich mal: Es hätte auch schlimmer sein können….
Einen Pokal kann ich euch leider nicht nach Bernau mitbringen. Es gab nur ein Handtuch, also zwei. Für AK-Sieg und Gesamtsieg. Dann teile ich mit Norbert, er hat sich auch eines verdient.“
Text: Andrea Möhr, Fotos: Norbert Möhr