Der Berg ruft. Heißt es. Hat sich eigentlich schon mal jemand gefragt, welcher Berg da eigentlich ruft? Und wen? Und warum? Nun, wieauchimmer es im Original gemeint gewesen sein mag, viele Läufer und vor allem Ultraläufer ruft im Mai der Rennsteig. Sonja Schmitt berichtet von ihrem ersten Rennsteiglauf-Supermarathon von Eisenach nach Schmiedefeld und der läuferischen Generalprobe hoch zum Brocken zwei Wochen zuvor.
„Wenn der Berg nicht laut genug ruft, dann helfen ihm Dritte dabei. Am 1. Juli 2015, kurz nach meinem Ultra-Debüt beim Brieselang-XXL, bekam ich folgende SMS: „Moin, sehr schöner Bericht auf der LGM-Webseite. Ich hoffe, du hast jetzt den Nachtlauf fest eingeplant. Nächstes Jahr wartet dann der S-Rennsteig auf dich. LG Tom“. Seither ist viel passiert, aber das Thema Rennsteig zog sich kontinuierlich durch die Monate. Vergangenen Samstag war es dann soweit…
Bevor es aber tatsächlich auf den sagenumwobenen Rennsteig gehen konnte, fehlte noch etwas: eine Generalprobe. Ein Lauf, der zeigen sollte, ob das Berliner Hügeltraining ausreicht, um am 21. Mai 2016 beim Supermarathon von Eisenach nach Schmiedefeld einen echten Berg zu bezwingen. Zwei Berge, genau genommen… Die ideale Möglichkeit für jene Generalprobe: die fünfte Etappe beim Etappenlauf Berlin-Brocken der Berliner Mauerwegläufer, exakt zwei Wochen vor dem Rennsteig.
Im Frühtau zu Berge
Dank einiger zusätzlicher Helfer am letzten Etappenlauftag und dank der Flexibilität von Rennleiter Harald kann ich zusammen mit Tom, eigentlich für das Versorgerteam vorgesehen, am 7. Mai die Etappe von Falkenstein auf den Brockengipfel – 62,2 Kilometer und 1700 Höhenmeter – in Angriff nehmen. Frei nach de Motto: „Aller Anfang ist schwer“ erfolgt der „Startschuss“ nicht nur morgens um 5.30 Uhr (gähn!), sondern auch direkt vor dem Lumpenstieg. Hier sind gleich auf den ersten 500 Metern die ersten 200 Höhenmeter zu bewältigen… Wer Tom kennt, weiß, dass er einen Hang zu Bergen hat, also setzt er sich gleich mal an den Anfang des Läuferfeldes, um nicht „hinten im Stau stecken zu bleiben“. Und ich, wohl oder übel, hinterher. Puhhh.
Bergpredigt, philosophisch
Oben angekommen, bilden wir eine Dreiergruppe zusammen mit Jörg Levermann. Dies führt dazu, dass der erste Teil der Etappe sehr philosophisch abläuft. Allein die Diskussion zum von Jörg vorgebachten Spinoza-Zitat „Liebe ist ein Gefühl der Freude, verbunden mit der Idee einer äußeren Ursache“ zieht sich bis zum ersten VP. Wobei, eine Diskussion ist es nicht im eigentlichen Sinn, mehr ein zurufgeförderter Monolog des Hobbyphilosophen.
Wie der Ochs vorm Berg
Nach dem ersten VP, gestärkt durch ein paar Kohlehydrate in fester und flüssiger Form, geht es weiter. Jörg läuft bald vor und bald hinter uns, um in Ruhe schöne Fotos von dieser Etappe zu schießen. Tom und ich zockeln weiter, immer im Schnitt von 6:45-7:00er Pace, quatschen über Gott und die Welt und die Vorfreude auf den Rennsteig, dann schaut Tom erst auf die Uhr und dann mich mit großen Augen an: „Sag mal, bist du noch ansatzweise auf dem Track?“ „Kein Stück“, zeigt ein Blick auf die Uhr. Da stehen wir nun, wie der berühmte Ochs vorm Berg, und haben wohl die Abzweigung verpasst. Die letzte ist aber gefühlt schon locker einen Kilometer her… Hm. Zurück? Och nö. Eigentlich müssen wir uns ja nur rechts halten… Rechts ist allerdings mehr Waldgestrüpp als ansatzweise ein Weg. Also bleiben wir auf unserem, in der Hoffnung, demnächst abbiegen zu können. Nach 500 Metern etwa führt tatsächlich eine Abzweigung nach rechts. Eine weitere Abzweigung und wir sind wieder auf der Strecke. Puh.
Wir verfransen uns noch ein weiteres Mal und schlagen uns mutig über ein Stück – glücklicherweise abgetrockneten – Sumpf auf den Track zurück. Ansonsten ist es ein schöner, unkomplizierter Lauf. Besonders der Teil vor dem letzten VP gefällt mir, hier geht es über Serpentinen in einem Waldstück über einem Bach entlang. Streckenweise aufwärts geht es hier allerdings auch schon – allerdings noch kein Vergleich mit den letzten sieben Kilometern der Etappe, nach dem letzten VP in Schierke. Hier geht es nur noch – für Flachlandberliner – knackig aufwärts, so dass wir mehr gehen als laufen. Oder sagen wir ehrlicherweise: Tom zieht mich weite Strecken den Berg hoch, damit er beim Gehen nicht ganz einschläft, der Arme. Denn das Gemeine ist ja: Der Kerl kann einfach einen Berg schneller hochgehen, als viele von uns ihn hochlaufen können – Berliner-Hügeltraining-Erfahrene wissen wovon ich rede…
Schlechte Generalprobe, tolle Premiere – und umgekehrt?
Kurz vor drei ist es dann so weit: Nach knapp neuneinhalb Stunden laufen wir über die imaginäre Ziellinie (Zitat des Sigrid-filmenden-RTL-Teams: „Wo ist denn hier der Zieleinlaufbogen??“) neben Harald, der uns freudig empfängt. Nina hat zuvor eigens diverse Zielbiere im Rucksack die sieben Kilometer ab Schierke hochgeschleppt, von denen wir uns brüderlich eins teilen. Dabei stellen wir fest: Generalprobe gut gelaufen, der Rennsteig kann kommen… (zumindest, sofern wir nichts auf Theaterweisheiten geben, nach denen eine gelungene Generalprobe…).
Rennsteiglauf-SM: Wecker um 4.30 Uhr für Spätaufsteher
Zwei Wochen später die Premiere. Der Rennsteig-Supermarathon ist mit 72,7 Kilometern zwar nicht mein erster Ultra, aber mein erster Ultra mit mehr als 70 Kilometern am Stück. Von den zu bezwingenden 1867 Höhenmetern ganz zu schweigen.
Nun denn: Am Freitag in Eisenach angekommen, wird der Wecker auf fieserable 4:30 Uhr gestellt. Piiiiiep!!! Unser Frühstück im Bett ist weniger der Romantik geschuldet als vielmehr aus der Not heraus geboren (wo kriegt man um die Zeit sonst schon Frühstück?). Aber nach einer lebhaften Diskussion darüber, auf wessen Seite denn nun gekrümelt werden darf, sind Tom und ich wenigstens einigermaßen wach. Halb fünf Aufstehen ist schließlich geradezu human, denkt man an die Schmiedefeld-Übernachter, die um drei Uhr nachts mit dem Bus losfahren müssen. Denn ja, es mag stimmen: „Das schönste Ziel der Welt ist Schmiedefeld“, wie der Lauf gerne beworben wird. Unerfahrene sollten jedoch folgende, bisher unbekannte Ergänzung berücksichtigen: „Bist du beim Startschuss gerne wach, dann schlaf´ lieber in Eisenach!“
Schleimige Erfahrungen
Der Laufweg zum Marktplatz dauert nur fünf Minuten. Die obligatorischen Startfotos werden gemacht. Und dann fällt auch schon der Startschuss – pünktlich um sechs. Anders als bei der Brocken-Etappe, die die ersten 500 Meter extrem steil, dann lange Strecken sehr flach und auf den letzten Kilometern wieder bergig war, geht es hier anfangs nicht so extrem bergauf, dafür dauert der Anstieg, und dauert und dauert. Bis auf ein paar kleinere Wellen geht es eigentlich bis zum Inselsberg bei Kilometer 25 immer nur bergauf. Hätte ich wissen können, wenn ich mal das Höhenprofil studiert hätte. Aber nee, ich hab bei dem Ausdruck ja nur fasziniert auf die dicht gestreuten VPs gestarrt, die von A wie Apfelschorle bis W wie Würstchen offenbar alles zu bieten hatten, was man sich nur vorstellen konnte.
Besonders berühmt ist der Rennsteiglauf ja für seinen Haferschleim. Der macht sich beim Laufen wirklich gut (empfohlene Sorte: Heidelbeer), allerdings verstehe ich eins nicht: Warum niemand auf die Idee kommt, vorgefertigte Mischungen unter dem englischen Originalnamen Porridge zu vermarkten. Dann müsste das Zeug gar nicht so ein Nischendasein fristen, sondern würde in Supermärkten boomen. Sorry, aber Schleim klingt nunmal wirklich widerlich. Und das, wo selbst Getreideprodukte aus Marketinggründen mittlerweile lieber als „Cerealien“ verkauft werden… Aber ich schweife ab.
Bergfest, erster Teil
Der Anstieg zum Inselsberg also ist ordentlich, speziell auf den letzten Kilometern. Freundlicherweise zieht Tom mich wie beim Brocken wieder ganze Passagen, ich muss nur gucken, dass ich meine Füße schnell genug setze, um dabei nicht auf die Nase zu fallen. Schließlich erreichen wir die Spitze des Inselsberges, und haben es damit auf 916m über NN geschafft (Eisenach liegt bei 215m NN). Zur Feier dieser Tatsache klettern wir mit Matze, der uns seit einer Weile begleitet, auf eine kleine Felsformation dort und machen Fotos.
Anschließend folgt eine steile Abwärtsphase und bei mir beginnt der mental härteste Teil des Laufs. Die ersten 25 Kilometer waren anstrengend, das merke ich schon. Zwar versuche ich mich damit zu trösten, dass ich von mehreren Seiten gehört hatte, dass bei km 25 der schwierigste Teil geschafft sei. Aber es kommen halt noch fast 50 km, uff. Bei dem Gedanken stehen mir nachgerade die Haare zu Berge…
Doch weiter geht´s. Tom stellt mir den tollsten VP der Strecke, die Ebertswiese bei Kilometer 36, in Aussicht – mit Jahrmarktcharakter (bin gespannt) und Würstchen (lässt mich kalt). Bei Ankunft muss ich feststellen, der VP ist wirklich nett, schon schade, dass wir nicht länger verweilen können. Matze stürzt sich auf die Würstchen. Ich nehme lieber die Äpfel, was auch ein Fehler war. Bitte: Falls irgendjemand mal einen Lauf mit mir macht, bitte erinnert mich daran, dass ich Äpfel konsequent zu meiden habe und besser zu Bananen greife. Die schmecken mir zwar anders als Äpfel nicht, von denen kriege ich aber immerhin keine Magenschmerzen. Aua.
Ein Hauch von Starlight Express
Als wir Kilometer 40 passieren, freue ich mich darüber, mehr als die halbe Strecke geschafft zu haben. Tom freut sich auch: „Ich fühle mich, als wäre ich grad erst losgelaufen!“. Jaja, auf das Laufniveau möchte ich auch mal… Andererseits kann es so schlimm zumindest nach außen auch wieder nicht aussehen. Denn kurze Zeit später passieren wir ein Touristenehepaar und ich höre, wie er ihr zuraunt: „Guck mal, die sehen aus, als seien sie gerade erst aus dem Bus ausgestiegen…“ Vielen Dank für die Blumen, das gibt gerade enormen Auftrieb. Ist auch bitter nötig, denn auch streckenmäßig geht es wieder bergauf. Bei steileren Passagen erbarmt Tom sich meiner und reicht immer wieder seine Hand nach hinten, um mich ein Stück zu ziehen, was ihm häufig die Frage einbringt: „Darf ich an die andere Hand?“ – und zwar nicht nur von den Mädels auf der Strecke ;-). Ich fühle mich durch das Ankoppelmanöver derweil an den Starlight Express erinnert (wer das Musical kennt: Tom als rasende Dampflok Rusty, ausgestoppt durch Sonja Red Carboose, den Bremswagen…).
Bei Kilometer 54 erreichen wir den „Grenzadler“ (842 m NN) und erneut eine Verpflegungsstation. Hey, wir sind doch nicht zum Essen hier…! Auch erfolgt hier eine Zwischenzeitnahme und die Möglichkeit des Ausstieges mit Zeitnahme ist gegeben. Nee, nix da. Weiter geht´s… äh: läuft´s.
Bergfest, Teil 2
Und immerhin ist der Weg auf den großen Beerberg, obwohl dessen Gipfel mit 974m über NN den höchsten Punkt der Strecke bei Kilometer 61 darstellt, nicht so steil wie der auf den Inselsberg. Tom ruft plötzlich „Stopp“ und das ist auch gut so. Sehr gipfelig fühlt man sich an der fraglichen Stelle nämlich nicht, und das auf den „Höhepunkt“ hinweisende Schild hätte ich glatt übersehen.
Es folgen diverse „Wellen“: Der Abstieg vom Großen Beerberg hinunter und wieder hinauf auf den Rosenkopf (938 m NN). An der Wetterstation vorbei zur letzten Verpflegungsstelle „Schmücke“ (km 64 / 916 m) und zur letzten Getränkestelle „Kreuzwege“ bzw. „Bierfleck“ (km 68,4 / 822 m). Dem Namen entsprechend erhält man am „Bierfleck“ Köstritzer Schwarzbier… Ich verzichte, muss aber an Andreas Baur denken, dessen Köstritzer-Gutschein ich in der Ferienwohnung liegen gelassen habe – sorry nochmal Andreas, hast einen gut bei mir!
Über alle Berge
Mittlerweile warte ich die ganze Zeit darauf, dass das Stück anfängt, von dem es, wie Tom behauptet hat, immer „nur noch abwärts ins Ziel geht“. Was soll ich sagen: Es kommt nicht. Das war wohl eine barometrische Täuschung seinerseits, sozusagen. Ist ja auch nur ein kleines Läufchen für ihn. Für mich dagegen ist Kilometer 70 mein bisheriges Tagesmaximalkilometerergebnis, damit sind die 69 Kilometer vom letztes Jahr beim Nachtlauf getoppt.
Nun sind es nur noch knapp drei Kilometer, oder auch vier, denn meine Uhr zeigt mittlerweile einen Kilometer mehr an als die Wegemarkierung. Aber das ist mir mittlerweile herzlich egal. Jubelnde Zuschauer jetzt an fast jeder Ecke, etwa einen Kilometer vorm Ziel können wir schon den Sprecher hören. Kerzengrade geht es das letzte Stück auf den Zielbogen zu, in den wir Hand in Hand einlaufen, während der Sprecher unsere Namen aufruft. Gänsehaut pur. Umarmung, Medaille, Umarmung und der Gedanke: „Ach, schon vorbei?“ Schade, irgendwie. Gut ich fühle mich keineswegs so, als sei ich „gerade erst losgelaufen“, und bin auch froh darüber im Ziel zu sein – aber schön war es doch, und ich pfeife auch nicht aus dem letzten Loch. Das soll doch was heißen… vornehmlich, dass Tom ganz genau weiß, wann er mich schonen muss und wann er mir ein bisschen in den Allerwertesten treten sollte – bildlich gesprochen natürlich 😉 – um das Beste aus mir rauszuholen.
Eine spezielle Erfahrung war dann noch die abendliche Zeltparty – ein wenig gewöhnungsbedürftig für mich: Da entflieht man mit 20 dem Huntloser Schützenfest mit Festzelt-Humptata, um als 40-jährige Berlinerin wieder in selbigem Ambiente zu landen. Aber was soll ich sagen, es war lustig. Und als Eisenach-Übernachter konnten wir dem Trinkgelage ohnehin nicht so lange beiwohnen, da unser letzter Shuttle um halb acht fuhr. Andere hatten noch auf der Rückfahrt am nächsten Tag Kopfschmerzen ;-).
Nach dem Rennsteig ist vor dem Rennsteig
So denn. Der Berg hat gerufen, wir waren da. Die meisten von uns werden sicher auch im nächsten Jahr wieder zum Rennsteig kommen. Denn nach dem Rennsteig ist vor dem Rennsteig, das Thema bleibt ganzjährig präsent. So war es zumindest bei mir im vergangenen Jahr und die oben zitierte SMS blieb nicht die einzige in Sachen Rennsteig…
6. August 2015: „Moin Tom (kommst du eigentlich auch aus einer Moin-Gegend, oder hast du dir das einfach so zueigen gemacht?). Rennsteig hatte ich’s mit ner Anmeldung versucht – geht aber nicht, erst ab September. Konntest du dich denn schon anmelden? Und, viel wichtiger: Wenn es mit der Anmeldung noch klappt, krieg ich dann mehr als fünf Minuten?“ Tja. Ja. Letztlich gab es mehr als fünf Minuten. Am Rennsteig waren es 9 Stunden, 41 Minuten und 28 Sekunden. In den Monaten davor: stunden-lange Gespräche. Noch längere Läufe. Dazwischen: immer wieder gar nichts. Durchdachte Tage. Durchwachte Nächte. Nicht zuletzt: ein Leben. Aber das, liebe Laufbericht-Leser, ist eine andere Geschichte…
Ihr, die ihr noch nicht beim Rennsteig wart, könnt euch die nächsten Monate mal überlegen, ob ihr 2017 dabei sein wollt, wenn es wieder heißt: „Das schönste Ziel der Welt ist Schmiedefeld!“. Die anderen, die schon dabei waren, kommen sowieso zurück ;-).“
Text: Sonja Schmitt
Fotos: Jörg Levermann, Thomas Meier, Sonja Schmitt