Auch Henrik Fenz gehört zu den Gipfelstürmern beim Deutschlandlauf von Sylt zur Zugspitze. Hier beschreibt er, wie es ihm auf der 1.300 Kilometer langen Strecke mit 19 Tagesetappen ergangen ist:
„Nach acht Jahren Abstinenz ist es wieder soweit: ein Deutschlandlauf steht an, diesmal mit mehr als 1.300 Kilometern der längste der Geschichte. Das Motto könnte lauten: „Von unten nach oben!“ 61 Läuferinnen und Läufer starten auf Meeresspiegelhöhe und werden sich im Laufe von 19 Etappen auf über 2.600 Meter und damit auf die Zugspitze „schrauben“. Einige werden es nicht ins Ziel schaffen.
Mit Conny und Karl Rohwedder, Heike Pawzik und Hendrik Fenz stehen am 16. Juli jeweils zwei Frauen und Männer der LG Mauerweg Berlin im Nieselregen von Sylt am Start. Um es vorweg zu nehmen: Drei werden knapp drei Wochen später auf Sonnalpin unterhalb der Zugspitze im Ziel ankommen. Dazwischen liegen plattes Land und Städte wie Hamburg, Köln oder Ulm und jede Menge Blasen, geschwollene Füße, Sonnenstiche, aber auch abwechslungsreiche Landschaften, neugierige Bauern und viele Eisdielen.
Aber der Reihe nach:
Der von Oliver Witzke akribisch und sehr gut organisierte Lauf hatte anfangs mehr als 100 Interessierte, Startwillige und eine lange Warteliste. Warum letztlich „nur“ 60 Einzelstarterinnen und Starter (sowie zwei Tandems und eine Reihe von Athletinnen und Athleten, die Einzeletappen unter die Füße nahmen) sich dem Abenteuer stellten, mag ein Geheimnis bleiben – es tat dem Lauf keinen Abbruch, im Gegenteil. So war genügend Platz auch in den (wenigen) kleinen Sporthallen und auch die beiden Jugendherbergen waren mit dem Tross der Deutschlanddurchquerer nicht überfordert.
Schon das erste Abendprogramm umfasst genau jene drei Punkte, die in den nächsten Wochen konstant bleiben: Abendessen (viel), Briefing für den nächsten Tag (kurz), Schlafen (viel zu kurz). Der Tag beginnt um 4:30 Uhr. Um 6 Uhr ist der erste Start, um 7 Uhr der zweite. Eingedenk der Wandererweisheit: Die aufgehende Sonne erblickt die Wandernden reisefertig. Das kriegen wir hin. Für die Tagesetappen über 80 Kilometer gilt eine Startkombination von 5 und 6 Uhr.
Mehr als 60 Läuferinnen und Läufer setzen sich am 16. Juli um 7 Uhr zum Bahnhof in Husum in Bewegung, dann mit dem Zug nach Sylt, mit dem Doppeldeckerbus zum Ellenbogen, quer durch die Dünen an den Strand. Der Regen kommt da schon von vorne unten und kann durchaus als Taufe betrachtet werden. Endlich – inzwischen haben wir es 9:30 Uhr – geht es los. Die ersten 35 Kilometer, man glaubt gar nicht, dass die Insel so groß ist. Dabei gab es bisher noch keine Gelegenheit zum Verlaufen. Einfach immer geradeaus. Das zeigt sich vor allem auf dem Festland. Die Zielrichtung ist jetzt klar: Süden! Zugspitze! Was ja eigentlich schon fast geschafft ist. Jedenfalls fühlt es sich am Ziel der ersten Etappe so an.
Die zweite Etappe ist mit 86 Kilometer deutlich länger. Und aus irgendeinem Grund lässt sich zumindest der Mauerwegläufer diesmal Zeit. Über zwölf Stunden Laufzeit sind nicht berauschend, gleichzeitig ist das Ziel ja die Zugspitze – egal wie lange es dauert.
Dabei sind Wetter und Landschaft ganz im Norden (noch) freundlich. Nicht zu warm, wolkig und nur wenig Wind. Das Auge wird nicht durch Sehenswürdigkeiten oder sonstige Reize abgelenkt. Eigentlich sieht die Strecke so aus: links Maisfelder und rechts Kühe. Wenn es ganz verrückt kommt: dann links Kühe und rechts Maisfelder. So einfach ist das hier im Norden. Dazu kommen lange Geraden, die zumindest ich genießen kann. Noch einige Kurven weniger und die Strecke wäre perfekt. Was südlich von Hamburg dann wahr wird und für den einen oder die andere nervenzehrend sein dürfte. Wer kennt die B 75? Klar, mit dem Auto. Da fährt man immer schön geradeaus und die größte Gefahr besteht darin, nicht vor Langeweile einzuschlafen und die wenigen Kurven, die es auf den etwa 40 Kilometern gibt, zu verpassen. Auf zwei Laufschuhen sieht die Strecke anders aus: Man glaubt nicht, wie lang ein Kilometer werden kann. Den LKW, der einen überholt, kann man noch lange Minuten mit dem Auge verfolgen, ehe er am Horizont zu klein wird. Da hilft nur eins: Immer den Pfeilen nach.
Der Entsafter „Trio Infernale“
So ziehen Tag für Tag Land und Leute an uns vorbei. Erstes Highlight ist das „Trio infernale“. Nach einer Woche steht das Läuferfeld um fünf Uhr (morgens, nachts, wie ihr wollt) an der Startlinie. Nicht nur diese Etappe mit mehr als 80 km ist fordernd, es folgen Etappen mit jeweils 90 und 86 Kilometern. Das Trio infernale eben. Es lauert auf uns, gnadenlos die Energie aus Jedem und Jeder herauszusaugen. Es hat seine Arbeit (leider) gut gemacht – die Reihen lichten sich.
Und es ist nur ein geringes Vergnügen, wenn ich über diese drei Tage mit schon virtuos zu nennenden Strategie als fast Letzter und nur Minuten vor dem „cut off“ (Zielschluss = Disqualifikation) einlaufe. Immerhin ist einem dadurch der geballte Applaus des gesamten Läuferfeldes sicher. Dem schnellsten Läufer entgeht diese Zuwendung ja zwangsläufig. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, erst um 23 Uhr ins Ziel zu kommen. Es bleiben sechs Stunden bis zum nächsten Start – für Duschen, Essen, Bett aufbauen, schlafen, regenerieren. Heike kommt mit einer gnadenlosen Konsequenz noch später: Tiefenentspannt und als würde jede Etappe der Regeneration dienen. Was für ein Timing, bewundernswert.
Laufen mit Schmerzen im Schienbein
Inzwischen trägt die Hälfte der laufenden Enthusiasten ab- und aufgeschnittene Socken, um so die verschiedene Varianten des gefürchteten shin splints – dem Schienbein-Kantensyndrom zu vermeiden oder zumindest die Beschwerden zu mindern. So liegt kein Druck auf dem Schienbein. Vielleicht hilft das. Mein Selbstversuch geht dem Mythos, „das läuft sich in drei Tagen wieder weg“, auf den Grund. Ich kann das bestätigen: es läuft sich weg, dauert aber in meinem Fall sieben Tage. Was allerdings sofort helfen würde, wäre ein Tag Pause: Beine hoch, Kühlpads drauf und schlafen. Genau das versage nicht nur ich mir. Pausieren ist genau das, was ich nicht will. Ich will auf die Zugspitze!
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es bleiben für mich langsame Tage. Gleichzeitig hat sich im Kopf etwas gelöst. Es fällt leichter zu laufen, mehr Spaß kommt auf und dies trotz des Wetters. So gab es Tage, an denen es nur einmal regnete – und das von Beginn an. Der Weg von Bonn etwa bis kurz vor Koblenz entlang des Rheins war beeindruckend. Die Natur zeigt einfach alles. Leider kann ich nur wenig erkennen – die Regenwände stören zwangsläufig.
Umso schöner ist es, in einer gemütlichen Sporthalle die Lebensgewohnheiten aller bis in die kleinsten Details kennen – wenn auch nicht immer – schätzen zu lernen. Um genau 21 Uhr geht das Licht aus. Manche schlafen dann schon tief und fest.
Nach zwei Wochen kommt der Deutschlandlauf im Ländle an. Nach Regen, Regen und Regen kommen jetzt Berge, Hitze und: Brunnen. Wie viele Blasen wird dieser Etappenlauf hervorgebracht haben? Hat sie jemand gezählt? Mit Patrick haben wir ein Universaltalent im Team, dass sich neben allen anderen Titeln auch den des „Blasen-Papstes“ verdient haben dürfte. Selten habe ich jemanden erlebt, der mit solch Feingefühl all diese Fußsohlen, Hacken und Zehen desinfiziert, behandelt und verpflastert hat. Zumindest Conny hat dadurch kaum an ihrem Tempo einbüßen müssen. Da weiß ich wirklich nicht, was schlimmer ist: mit Blasen zu laufen oder mit Schwellungen an den Beinen.
Anders als in Norddeutschland haben die Dörfer hier im Süden Brunnen. Das ist Segen für alle Läuferinnen und Läufer. Oft wundern sich dieser Tage die Einheimischen über Fremde, die völlig ungeniert am und im Brunnen sitzen und sich erfrischen. Nichts hilft besser gegen geschwollene Beine. Und davon gibt es genügend. Pharmafirmen wie Hansaplast oder Voltaren müssten eigentlich Schlange stehen für diese einmalige Gelegenheit zur Werbung. Aber das ist ein anderes Thema. Wie sich auch der Zusammenhang zwischen Ultralauf und Frischhaltefolie nicht zwangsläufig erschließt.
Über Ulm und Memmingen geht es weiter nach Füssen. „Geht“ ist das richtige Wort: Es gibt eine krasse Welt der zwei Geschwindigkeiten. Ursprünglich sollte es zwei Startgruppen geben: Eine die über der Marke von sieben Minuten pro Kilometer liegt und um sechs Uhr startet, und eine schnellere. Am Ende gehören zur schnelleren Gruppe nur noch vier (!) Personen.
Immer wieder was Neues: Drei Tage vor dem Ziel eine Hitzeschlacht, der nicht alle gewachsen sein werden: Bei 77 Kilometern, knapp 1.000 Höhenmetern und 35 Grad Hitze im Schatten. Nur gab es auf der Strecke keinen Schatten. Da gilt es Vorsicht walten zu lassen.
Der eine oder andere läuft nach dem Motto: „Renne ich schneller, bin ich eher und vor der Hitze im Ziel“; und wird die Quittung am kommenden (letzten) Lauftag bekommen. Hier hätte die Rennleitung eingreifen und Augenmaß beweisen können: Angesichts der Wettervorhersagen hätte eine auf beispielsweise 45 Kilometer verkürzte Strecke der Sicherheit gedient: Manchmal muss man die Läuferinnen und Läufer auch vor sich selber schützen.
Garmisch-Partenkirchen ist Ziel der letzten Etappe und Startpunkt für den Zugspitz-Bonus. Manche erreichen den Ort nur mit größter Müh und Not: Übelkeit, Kopfschmerzen, Kraftlosigkeit zeigen sich allerorten. Woher kommt das wohl? Nur vom verdorbenen Steak am Vorabend, dem Sonnenstich, dem Hitzschlag? Woher denn? Bei mir doch nicht. Das gipfelte im Notarzt-Einsatz hinter dem Ziel, wo ein Läufer zusammenbrach. Ab ins Krankenhaus, Infusion und – nach drei Stunden – steht er wieder im Konferenzzentrum, unserem Lager für die nächsten beiden Tage. Wird er laufen? Geht das überhaupt? Darf der das? Ist das tollkühn oder unverantwortlich?
Gipfelstürmer unterwegs
So langsam nähert sich der Deutschlandlauf 2017 seinem Ende. Vermutlich sind viele froh, dass die Strapazen ein Ende haben werden. Wobei die Verklärung spätestens mit dem Zieleinlauf beginnen dürfte: So schlimm sei es doch gar nicht gewesen, die Beschwerden auszuhalten, die Atmosphäre toll und was man nicht alles unterwegs gesehen und erlebt hat. Also eigentlich ein gelungenes Abenteuer. Und wird da nicht demnächst …
Bonus-Etappe Zugspitze: Nur 28 Kilometer liegen vor den verbleibenden 38 Läufern und drei Läuferinnen. 28 Kilometer mit reichlich 2.000 Höhenmetern. Nicht alle sind Berge gewöhnt und so gibt es heute vier Startzeiten stündlich von fünf bis acht Uhr. Wer auf der Sonnalpin angekommen ist, für den und die ist der Deutschlandlauf Geschichte.
Es wird ein Wandertag; die Schlange zieht sich zur Partnach-Klamm und auf Waldwegen die Serpentinen hoch. Schön zu sehen, wo man noch hinauf muss. Das verlangt nach 18 Tagen Einigen alles ab: Flüche, Tränen oder trotziges Voranschleichen sind die Reaktionen. Einem einzelnen Läufer scheint das nichts auszumachen. In einem furios zu nennenden Galopp ist er in weniger als vier Stunden auf dem Gipfel. Die eigentliche Wanderzeit wird mit zehneinhalb ausgewiesen.
Und auch für mich wird es der wohl beste Tag. Nach den ersten beiden Etappen in Norddeutschland endlich eine, die für mich fast beschwerdefrei sein wird. Obwohl mir die langen Geraden (ich erinnere nur an 45 Kilometer die B 75, oder war es die B 25) liegen, ist es der Berglauf, der mir mein bestes Tagesergebnis beschert. Ist es das Ziel, das mich magisch anzieht, meine Familie, die mich erwarten wird oder das Wissen, nun endlich dieses Laufabenteuer geschafft zu haben? Ich weiß es nicht. Ich komme jedenfalls gut gelaunt oben in der Gletscherwelt an, werde empfangen vom Team und einigen Läufern und bekomme einen Becher Wein in die Hand gedrückt.
Während einige Läufer noch die letzten 400 Höhenmeter bis zum Gipfelkreuz klettern, schaue ich mir die Strecke von unten an und entscheide mich für die Gondelbahn. Der Weg hoch führt durch ein Geröllfeld und anschließend über Seile bis nach oben. Das sieht sehr spaßbefreit, dafür aber unverhältnismäßig gefährlich aus.
Nach dem Abstecher zum Gipfel geht es per Seilbahn und dann mit der Bergbahn zurück ins Tal und zum Lager. Ausruhen, Duschen, Abendessen – die übliche Choreographie der vergangenen 18 Tage wird von der Abschlusszeremonie nachhaltig verändert. Ob Sololäufer oder -läuferin, ob Etappenläufer oder Tandems, ob Helfer oder Helferinnen: alle bekommen Ihren wohlverdienten Dank.
Es gab vor dem Beginn des Laufes ein T-Shirt mit dem Slogan: „Deutschlandlauf 2017 – Ich war dabei.“ Und darum ging es wohl den meisten. An einer solch spannenden, anstrengenden und schönen Geschichte mitgemacht zu haben. So wie jede und jeder konnte und wollte, mal mit Begeisterung, mal mit blanken Nerven und mal mit schmerzenden Knochen oder Freudentränen.
Es ist gut, dass es jetzt vorbei ist. Wir wollten von Sylt zur Zugspitze. Und das haben wir geschafft.“
Text von Hendrik Fenz