Erinnerungen und Aufzeichnungen in Zeiten der Pandemie
Letzte Woche am 15. April war es der Jahrestag. Sieben Jahre sind seit dem Anschlag auf „Svens“ Boston Marathon nun schon vergangen. Weil Svens damaliger Verein den Originalbericht aus seinem Archiv getilgt hat, teilt unser Mitglied Sven Chojnacki ihn nun auf diesem Wege noch einmal (dabei hat er die Streckenbeobachtungen leicht gekürzt und um bislang meist nur mündlich geteilte Schilderungen im Prolog und Epilog ergänzt):
Prolog
Der Blick schweift vom Royal Sonesta Hotel über den Charles River und die Skyline der Stadt. Doch alles was durchdringt, ist nur dieser eine Gedanke: Ich bin tatsächlich hier, in Boston, Massachusetts. Weil aber bei Bestzeitenträumen in der finalen Marathonvorbereitung die optimale Erholung im Vordergrund stehen sollte, längere Stadtspaziergänge eher Gift wären, musste das Sightseeing warten. Stattdessen hatte ich mich für die finale Tapering-Phase mit zahlreichen Büchern eingedeckt. Um dabei sowohl die Neugierde auf die Stadt als auch die Spannung auf den Lauf hochzuhalten, sollte mich die fiktive Geschichte „Boston Run: Der Marathon-Thriller“ von Frank Lauenroth auf den letzten Schritten bis zum Marathontag begleiten.
Die Geschichte dreht sich um einen eher soliden Läufer, dessen Freund eine Wunderdroge entwickelt hat. Der Clou: die Substanz kann sich über die komplette Marathondistanz schrittweise abbauen und soll nach dem Zieleinlauf bei der Dopingkontrolle nicht mehr nachweisbar sein. Der Wert des neuen Mittels und die vielen Einsatzmöglichkeiten jenseits des Sports rufen auch den US-Geheimdienst NSA auf den Plan, der während des Rennens die Jagd auf den Protagonisten eröffnet, um sich noch vor dem Zieldurchlauf Zugang zum Blut (und damit zur geheimen Substanz) zu verschaffen. Die vielfältigen „Übernahmeversuche“ sind dabei höchst originell mit den sehr besonderen Streckendetails des Boston Marathons verwoben. So funktioniert das Buch nicht allein als spannungsgeladener Thriller, sondern auch und vor allem als kenntnisreiche Beschreibung der Strecke vom Start in Hopkinton bis zur Ziellinie auf der Boylston Street.
Und weil ich im Vorfeld des realen Boston Marathons bereits erfahren hatte, dass die Schlusssequenz des fiktiven Thrillers im echten Royal Sonesta Hotel spielt, habe ich genau dort eingecheckt – und sollte dann doch den erzählerischen Showdown in der Hotelbar „Dante“ auf sehr eigene, geradezu tragische Weise (nach-)erleben…
Startvorbereitungen
Der Renntag beginnt früh: bereits um 4:30 am heißt es: Aufstehen, Frühstück und im leichten Trab über den Charles River hinüber zum Shuttle-Dienst ungezählter, gelber Schulbusse im Zentrum von Boston. Doch vor der Abfahrt ist Geduld gefragt: langes Anstehen (fast eine Stunde) in lustigen, schier endlosen Schlangenknäulen, die aber gut organisiert am Ende doch immer zu einem Bus führten. Nach einer weiteren knappen Stunde Fahrt endlich die Ankunft in Hopkinton, dem legendären Startort des Marathons. Auch hier war alles top organisiert mit unglaublichen Mengen an Dixi-Klos, an denen sich trotzdem immer noch lange Schlangen bildeten. Die einen hatten ihre Bedürfnisse, die anderen ihre Nervosität. Auf meinem Weg in den Startblock – ich war wegen des Staunens und Sammelns an Eindrücke etwas spät dran – ertönte auch schon die Nationalhymne. Finde ich an normalen Tagen das Absingen von Hymnen schon verstörend, führte diese Variante an diesem Ort zu nicht erwartbaren Hindernissen: einige US-amerikanische Läuferinnen und Läufer sind mit der Hand auf dem Herzen wie angewurzelt stehengeblieben und bildeten für mich unüberwindbar erscheinende Hürden auf dem Weg zum Startblock.
Auf der Strecke
Geschafft! Ich stehe mit einer dreistelligen Startnummer (erster Block, erste Welle) in Hopkinton. Und kaum war ich im Startblock angekommen, erfolgte auch schon der Startschuss. Quasi vom Start weg verläuft die Strecke auf der ersten Hälfte stetig bergab (gespickt mit einigen flachen und minimal ansteigenden Abschnitten). Trotz aller Euphorie kann es daher nur heißen: auf die Bremse treten. Auf einer Strecke die stur geradeaus und meist nur bergab führt, ist das gar nicht mal so leicht. Doch bis zur 10-Kilometer-Marke habe ich ein gutes Gefühl für das ‚richtige‘ Tempo gefunden. Aber bereits auf diesem Abschnitt hat sich angekündigt, was zumindest für Boston-Greenhorns später zur Gewissheit werden sollte: die ständigen Wechsel zwischen Downhill-Passagen und flacheren oder leicht ansteigenden Abschnitten haben einen fließenden Laufrhythmus verhindert und die Muskeln auf andere Weise belastet. Mehr noch: Das Streckenprofil war Gift für die Muskulatur, wie sich später noch herausstellen sollte. Nichtsdestotrotz lief auch der nächste 10-Kilometer-Abschnitt nahezu perfekt. Die weisen Worte von Klaus Goldammer (OSC Berlin) freilich, der mich kurz vor Erreichen der HM-Marke noch warnte, dass sich eine zu flott gelaufene erste Hälfte später noch rächen werde, erreichten nur meine Ohren, nicht aber meinen Verstand. Dafür stimmte mich nur wenige hundert Meter später die HM-Durchgangszeit von 1:24:10 viel zu optimistisch…
Zwischen „Herzschmerz“-Hügel und „Finish-Leiden“
Läufer*innen wissen es wohl: Zweite Hälften beim Marathon sind Wunderwerke un(v)erhoffter Überraschungen; und die des Boston Marathons hält ihren eigenen „Herzschmerz“ bereit. Doch das eine ist die aus Laufberichten gewonnene Vermutung darüber, das andere ist die eigene (fehlende) Erfahrung. Die nun immer anspruchsvolleren (und vor allem längeren) Hügelabschnitte setzten nicht allein der Muskulatur immer stärker zu. Auch mental fühlte sich nun jeder Kilometer 30-45 Sekunden langsamer an (auch wenn die Uhr ‚technisch‘ Abschnitt für Abschnitt zeigte, dass sich am durchschnittlichen Tempo nichts geändert hatte). Den nun zunehmend verblassenden Lichtblicken der HM-Durchgangszeit und des „Schrei-Tunnels“ enthemmter Cheer Girls am Wellseley College folgten zwischen Kilometer 26 und 33.5 die berüchtigten Anstiege der Newton Hills, mit dem Heartbreak Hill als legendäre Zugabe.
Als „seriöser Marathonläufer“ habe ich natürlich in der Vorbereitung die Tipps von Uta Pippig zur richtigen Lauftechnik bei solchen Anstiegen gelesen (kürzere Schritte, leicht nach vorn beugen). Auf den ersten Blick und rein „erfahrungswissenschaftlich“ betrachtet, hat dies auch vorbildlich geklappt: In den Newton Hills, die ich unbedingt mit Verve bezwingen wollte, hat der Kilometerschnitt immer noch auf dem Niveau der HM-Durchgangszeit gelegen. Auf den zweiten Blick freilich sprechen die Fotos des Veranstalters eine etwas andere Sprache: Sie deuten bereits eine leicht „eingeknickte“ Laufhaltung an. Der tatsächliche „Leistungsknick“ erwischte mich dann aber nicht am Heartbreak Hill, sondern am nächsten kleineren Anstieg sowie an zwei „Hügelchen“ kurz vor dem Ziel. Die Konsequenzen: die Versorgungsstellen wurden zu rettenden, willkommenden Pausenstellen. Und nun erreichten endlich auch die mahnenden Worte von Klaus den ausgelaugten, aber noch wachen Verstand – wenn auch zu spät.
Dass ich hier über zwei Minuten „verloren“ habe, drückte beim Zieleinlauf auf der Boylsten Street merklich die Euphorie. Die Zielzeit (2:51:42 h) lag eher am unteren Ende der Erwartungen (erst mit etwas Abstand sollte ich erkennen, dass dieses Finish und auch die gelaufene Zeit einen sehr viel höheren Wert hatten). Kurz hinter der Ziellinie aber fühlte sich die Muskulatur so fest an, dass der Rückweg zum Hotel (mit einer unbezwingbar erscheinenden Brücke über den Charles River) beschwerlicher erschien als der Marathon selbst. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass sich das wahre Drama erst etwas später ereignen und sich meine Rückkehr ins Hotel als ein ungeahntes Privileg erweisen sollte.
Erschütterungen
Es knallte. Laut und unüberhörbar, aber noch ohne jegliches Bewusstsein für Anlass oder Ursache. Erst mit den plötzlich einsetzenden Email-Anfragen („bist du ok“?) und mit dem Einschalten des Fernsehgerätes setzte eine Mischung aus Ohnmacht und Entsetzen ein. Die meistgebrauchte Umschreibung der Situation nach den Explosionen auf der Boylsten Street war dann auch ’surreal‘. Es war extrem irritierend unter dem Eindruck eines so beindruckenden, facettenreichen Lauferlebnisses einen gewaltsamen Anschlag auf DEINEN Lauf verarbeiten zu müssen. Untereinander wurden dann trotz der menschenverachtenden Ereignisse vor allem Eindrücke über Zeiten und Strecke ausgetauscht. Die Verdrängung hat hier noch bestens funktioniert. Das war auch auf dem Flughafen zwei Tage später nicht anders. Erst zu Hause hat auch mich dann die volle Wucht der Realisierung des Anschlags getroffen. Nicht zuletzt der Umstand, dass uns vermutlich einige der Opfer auf unseren letzten Metern vor dem Zieleinlauf noch angefeuert haben, bleibt dauerhaft als tragische Erinnerung mit diesem Tag verbunden. Und dennoch: als Verfechter einer offene Gesellschaft kann die Antwort auf solche Anschläge nur lauten: weiterlaufen und alle Teile der Gesellschaft auf den friedlichen und solidarischen ‚Lauf des Miteinanders‘ mitnehmen.
Epilog
Wenn sich Fiktion und Realität vermischen: Die finalen Szenen vom „Boston Run: Der Marathon-Thriller“ spielen in der Bar „Dante“ im Royal Sonesta Hotel – mit traumhaftem Ausblick auf den Charles River und die Skyline der Stadt. Hier sitze ich also seit dem späten Nachmittag des Marathontages mit zahlreichen Läufer*innen aus aller Welt. Gestrandete in einem eigenen, neuen Mikrokosmos. Und ähnlich wie die Protagonisten des Romans starren wir gebannt und fassungslos auf einen der vielen Bildschirme mit ganz realen BREAKING NEWS. Doch während die Romanhelden im „Dante“ auf ihr Happy End zusteuerten, sind wir wie Gefangene in den Endlosschleifen einer ganz realen Berichterstattung. Im Wechsel laufen CNN, HBO und NBC und zeigen die explosiven Bilder der „Boston Bombings“. Wieder und wieder. Und ganz ohne gutes Ende, aber mit dem typischen und scheinbar unerschütterlichen US-amerikanischen Pathos: „the world will return to this great American city to run harder than ever and to cheer even louder for the 118th Boston Marathon“ (Obama). Auch wenn er recht behalten sollte, so ist die Welt für viele Zuschauer*innen und Teilnehmer*innen der 117sten Ausgabe doch eine andere geworden. Daran werde ich spätestens wieder erinnert, wenn auf dem Sprengplatz im Grunewald nahe meiner Laufstrecke dumpfe Explosionen die Stille erschüttern…
Text: Sven Chojnacki
Bilder: Sven Chojnacki (außer Bild nach dem Anschlag: Aaron Tang /Wiki Commons)