Einmal quer durch Deutschland laufen. 340 Kilometer. 7.000 Höhenmeter. In sechs Tagen. 22 Läufer stellten sich dieser Herausforderung, dem Etappenlauf „Deutschlandquerung“ der LG Mauerweg Berlin e.V . Am Ende schafften es 17 ins Ziel. Harte Tage, schöne Tage, lange Tage – körperlich anstrengend, mental herausfordernd. Eine Woche Urlaub, die man nie wieder vergisst.
6 Tage sind wenig, wenn ich bedenke, dass der Anlauf für meine Teilnahme sich praktisch über 6 Jahre zog… Bereits 2016 waren mein Mann Tom und ich – frisch verliebt – beim damaligen LGM-Etappenlauf „Von Berlin zum Brocken“ dabei – allerdings als Versorger und Tagesläufer. Wenngleich ich sicher etwas positiv verstrahlt war durch die anfangsbeziehungsbedingt rosa Brille, ist dies immer noch eine meiner schönsten Erinnerungen an meine bisherige Ultra-Laufzeit. Jedenfalls waren wir damals fest entschlossen, den LGM-Etappenlauf irgendwann einmal gemeinsam komplett zu laufen.
2020 war es endlich soweit und wir beide – nach Vorjahren, in denen es aus verschiedensten Gründen nicht mit einer Teilnahme klappte – nicht nur angemeldet, sondern durch diverse Winter-Ultras super trainiert. Dann kam bekanntlich Corona und aus dem Vorhaben wurde nichts, dito 2021. Die Hoffnung legte sich auf 2022, doch über den Winter ging mir Tom verloren – nicht als Mann, oder zumindest nicht mehr als üblich – aber doch als Ultralaufpartner. Schuld war eine Lungenembolie, ausgelöst durch eine Beinthrombose, deren Ursache wir bis heute nicht kennen. Wohl aber die Folgen, die zunächst in Laufverbot und später in deutlich verringerten Laufumfängen mündeten.
Ich lief über den Winter und Frühling dann viel mit Antje Matthiesen, deren Mann seit einer Weile keine Ultras mehr bestreitet, oft auch zu dritt mit Nina „Rennleitung“ Blisse (Anfang März sogar einen Teil des Etappenlaufs als „Streckentestlauf“). Und überlegte lange, ob ich mir den Etappenlauf trotzdem („alleine“) geben sollte. Ausschlaggebend war dann der Gedanke, dass
- man letztendlich nie weiß, was kommt (wie uns die letzten Jahre und Monate Weltgeschehen ja plastisch deutlich gemacht haben),
- die Tatsache, dass meine Eltern sich – wie sie es auch 2020 und 2021 gemacht hätten – extra eine Woche Zeit nahmen, um sich während des Etappenlaufs um meine 12-jährige Tochter zu kümmern,
- und Antje, die sich darauf freute, wennschon ohne unsere Männer, zumindest mit mir als Mädelsduo den Lauf bestreiten zu können.
Auch das – denn man weiß nie, was kommt, siehe oben – verlief letztlich anders als geplant, aber das wussten wir zu diesen Zeitpunkt noch nicht.
Anreisetag – Samstag, 21. Mai 2022:
Morgens noch gemütlich Frühstück mit Tom, meinen Eltern und meiner Tochter, mittags ab zum Bahnhof, wo um kurz nach 13 Uhr der Zug fährt. Antje ist schon da und der Zug fällt – anders als meine beiden Verbindungen vom vorherigen Wochenende – erfreulicherweise nicht aus. Wir stellen außerdem fest, dass das 25.000 Einwohner umfassende Städtchen Arnstadt tatsächlich zwei Bahnhöfe hat und wir nur 700 Meter bis zum Hotel brauchen, wenn wir nicht am Hauptbahnhof, sondern in Arnstadt Süd aussteigen.
So sind wir pünktlichst zur Startnummernausgabe kurz nach 16 Uhr am Hotel, wo Harald und Nina schon alles aufgebaut haben. Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass die T-Shirts schon verteilt werden – ich lerne, es sind Teilnehmer-Shirts, keine Finisher-Shirts. Trotzdem nehme ich mir vor, meins erst „verdient“ anzuziehen. Viel toller ist aber noch, dass Nina mir statt des diesjährigen weißen Shirts (in schön und Farbe hatte aufgrund der ganzen Corona-Ungewissheit nicht geklappt) erstmal ein wunderschönes türkis-graublaues Etappenlauf-Shirt überreicht. Es ist der „Probedruck“ vom Shirt für den Etappenlauf 2020, das wir (also vor allem Nina, aber mit etwas Input von mir) damals mit viel Herzblut entworfen hatten, das dann aber ja wegen der Absage nie in größerer Menge produziert wurde. Wow, wie cool! (Ich freue mich immer noch darüber😉).
Dann geht es aufs Zimmer, Sachen für morgen rauslegen, unten in der Bar das Bier der Brauerei testen, auf die Ankünfte der noch fehlenden Teilnehmer warten und schließlich um 18.30 Uhr Abendessen, das sich als sehr leckeres Drei-Gänge-Menü herausstellt, das noch vielfältiger wird als auf der Karte beschrieben.
Am Tisch erzählt Harald ein paar Anekdoten aus dem Orgateam, insbesondere von einigen Gesprächen mit den Unterkünften zu den Themen:
a) Essen:
Unverständnis über die Essgewohnheiten der Gruppe: „Vornehmlich vegetarisch? Wenn die bei Ihnen so viel laufen, da müssen die doch abends was Vernünftiges zu essen kriegen! Wir könnten da einen sehr schönen Schweinebraten anbieten!“
Spoiler: Den gab es am dritten Abend in Sontra tatsächlich, zum Glück mit vegetarischer Alternative (wenngleich die – dem 80-er-Jahre-Verständnis der Betreiber („vegetarisch = Beilage“) sehr einfallslos und auf 12 Esser beschränkt war).
b) Unterbringung:
Überbordendes Verständnis: „Ach herrjeh, wir haben nur Wannen in den Zimmern, meinen Sie, ihre Leute kommen da nach ihrem langen Lauf noch wieder raus??“
Es wird noch ein bisschen mit lang nicht gesehenen Lauffreunden gequatscht, dann ziehen sich aber alle relativ früh auf die Zimmer zurück, denn alle wollen zum morgigen Start ausgeruht sein.
Erlebnis des Tages:
Im Zug von Berlin nach Erfurt werde ich zweimal kritisch angesprochen: Einmal vom Zugbegleiter, weil ich nicht direkt nach meinem Schluck Kaffee die Maske wieder aufgesetzt habe. Einmal von einer Mitfahrerin, weil ich im Ruheabteil vergessen habe zu flüstern. Im Zug von Erfurt nach Arnstadt dann tragen ca. 60 % der Mitfahrenden keine Maske und ein trinkfreudiges Quartett unterhält sich in vernehmlicher Lautstärke und damit das komplette Abteil – beide Male beschwert sich niemand. Irgendwas mache ich falsch.
1. Etappe: Arnstadt – Eisenach (64 km – 920 Hm) / Sonntag, 23. Mai 2022
DER TAG DER DÉJÀ-VUS
Die Nacht ist kurz – das Adrenalin lässt mich nicht so richtig zur Ruhe kommen, und wenn doch, fährt mal wieder einer der halbstündlichen Regionalzüge direkt hinterm Grundstück vorbei – ratatatam!
Insofern bin ich beim Weckerklingeln um 6.15 Uhr mehr oder weniger wach. Mein Magen noch nicht so, trotzdem klappt es einigermaßen mit dem frühen Frühstück – normalerweise frühstücke ich nach dem Intervallfasten 16:8-Prinzip gar nicht, aber das wäre bei einem Ultralauf kontraproduktiv. Gegen 7.20 Uhr gehen Antje und ich mit gepackten Koffern nach unten, um um 7.30h pünktlich mit der langsame(re)n Gruppe (Pace > 7min/km) zu starten. Die schnelle(re)n Läufer (Pace < 7min/km) – von denen auch viele schon wach und zum Start gekommen sind (um unseren Start zu beklatschen oder uns neidisch zu machen, dass sie im Gegensatz zu uns noch fast zwei Stunden Zeit zum Frühstück haben) starten erst um 9.30 Uhr. Hintergrund ist, das Läuferfeld über den Tag möglichst zu verdichten, um die einzelnen VP-Öffnungszeiten gering zu halten – immerhin gibt es auf jeder Etappe mindestens 4 VPs (VP = Verpflegungspunkt). Und auch die Ankunftszeit fällt dann in ein kleineres Zeitfenster. So zumindest der Plan, der aber von der Rennleitung, wie sich schon am Abend herausstellt, an die Realitäten angepasst werden muss.
Dann ist es 7.30 Uhr und es geht los. Fast brauchen Antje und ich nicht auf den Track schauen, denn wir waren erst Anfang März hier und haben die Strecke von heute zusammen mit Nina „testgelaufen“. Auf pupsflachem Radweg laufen wir kilometerlang auf die Mühlburg zu – die älteste Burg Thüringens und eine der „Drei Gleichen“. Dann hoch zur Burg die ersten Höhenmeter. Auf dem trailigen Pfad nach oben wimmelte es beim Testlauf von Ausflüglern mit Kinderwagen und Co., heute bleibt uns dieses Gewusel – da noch so früh am Tage – zum Glück erspart.
Wieder runter vom Burghügel geht es dann über eine steile Treppe, die Koordination verlangt, und ich bin einfach nur froh, dass meine Füße noch frisch sind, so dass ich sie einigermaßen entspannt runterkomme, ohne schleichen zu müssen. Das Gefühl ist auf einem Foto ganz gut festgehalten.
Weiter geht es – vorbei an blühenden Rapsfeldern und bunt schillernden Wiesen, aber auch ein Stück quasi direkt neben einer Autobahn, vom Weg am Acker nur durch einen schmalen Graben getrennt. Ich bin wahrscheinlich nicht die einzige, die vor ihrem inneren Auge eine Karambolage und ein wuchtig von der Bahn in Richtung Acker geschubstes Blechmonstrum sieht – man hätte exakt keine Möglichkeit, in Deckung zu gehen. Zum Glück ist dieser Abschnitt nur wenige hundert Meter lang.
Während die ersten 25 km bis zum 2. VP ganz gut laufen, zieht sich für mich der Abschnitt bis zum 3. VP – als Überraschungs-VP von externer Seite angekündigt – sehr. Das lauwarme Wasser in der Trinkflasche kann mich nur noch mäßig begeistern und die Mittagssonne lässt die Lust auf eine kühle Apfelschorle ins Unermessliche wachsen. Gefühlte Ewigkeiten geht es durch ein Dorf und an einem Radweg entlang, bis am Horizont ein Zelt mit der Aufschrift „Lauffeuer Fröttstädt“ auftaucht. Ah, die Organisatoren vom Thüringen Ultra (TU). Noch so ein Lauf, zu dem Tom und ich seit 2020 angemeldet sind (weil ich den immer mal bei gutem Wetter laufen wollte, nachdem meine dortige 100-km-Premiere eine siebenstündige Regenschlacht war…) und der nach zweimaligem Verschieben im Juli heuer endlich stattfinden soll. Meine Versuche, aus TU-Organisator Gunter Rothe herauszubekommen, wie denn das Finisher-Shirt in diesem Jahr aussehen wird, laufen allerdings erwartungsgemäß ins Leere. „Das verraten wir NIE“ gibt er sich empört. Aber es werde „etwas ganz Besonderes“. Na dann, ich darf wohl weiter darf gespannt sein.
An diesem wie auch an den beiden kommenden VPs treffen Antje und ich immer wieder auf viele andere Läufer unserer Startgruppe – insbesondere auf Heinz, Harald, Ralf und die beiden Andreas (Andreasse?), ein Zeichen dafür, dass sich das Feld nicht sehr weit auseinanderzieht. Zum „Feld“ zählt natürlich nicht Sascha, der uns ziemlich genau bei km 50 einholt – nachdem er zwei Stunden (!) nach uns gestartet ist. Wie immer findet er kurz Zeit zum Quatschen, bis er wieder „locker“ (was bei ihm halt locker ist) lostrabt und ratzfatz hinter der nächsten Kurve verschwunden ist. Bei km 50 sind wir dann auch inmitten der Höhenmeter, die sich bei dieser Etappe fast ausschließlich auf die 2. Hälfte und zum Großteil auf das letzte Drittel konzentrieren.
Das Ziel hat es dann noch mal in sich: Als der Track zu Ende ist, ist leider vom Zielbanner nichts zu sehen – wir haben die Einfahrt zum Hostel „Alte Brauerei“ in Eisenach übersehen. Also müssen wir nochmal 200 Meter zurück. Harald weist rufend und winkend den Weg. Dann haben Antje, ich und auch Ralf, der auf den letzten Kilometern zu uns gestoßen ist, es geschafft und nehmen nach 9 Stunden und 7 Minuten Lauf unsere erste Medaille entgegen. Außerdem machen Antje und ich noch schnell ein Zielfoto – da wir morgens leider versäumt haben, ein Startfoto von uns beiden zu machen.
Beim Abendessen verkünden Nina und Harald, dass die Startgruppen am kommenden Tag nur noch mit einer Stunde Differenz starten würden – da die „Langsamen“ aus der schnelle(re)n Gruppe und die „Schnellen“ aus der langsame(re)n Gruppe fast gleich schnell unterwegs waren, so dass zwei Stunden Differenz zwischen den beiden Gruppen nicht sinnvoll sind. Zudem werden die Zuordnungen neu getroffen, so wird Claudia wenig verwunderlich für die schnelle Gruppe eingeteilt.
Anblick des Tages:
In der Unterkunft in Eisenach erwartet uns ein Vierbettzimmer mit Doppelstockbetten und Bettwäsche zum Selbstbeziehen sowie je Bett eine abgepackten Portion Zwieback. Zwieback? Wieso Zwieback? Wieso keine Schokolade? Und wenn keine Schokolade, warum nicht wenigstens Gummibärchen? Aber Zwieback? Wer will denn Zwieback?! Das hat uns den halben Abend und auch noch am kommenden Morgen beschäftigt..
2. Etappe: Eisenach – Sontra (57 km – 1.250 Hm) / Montag, 24. Mai 2022:
DER TAG DER VERSTECKTEN WEGE
Heute denken Antje und ich an ein Startfoto, auch mit allen anderen „8-Uhr-Startern“ zusammen gibt es noch eins, und wir traben im Pulk gemeinsam los. Passend zum Startort (als Ultraläufer startet man hier im Mai ja eigentlich morgens um 6 Uhr zum Rennsteig-Supermarathon) habe ich mein Rennsteigshirt von 2016 angezogen und war auch nicht die einzige mit dieser Idee. Es erwarten uns 6 km weniger, dafür knapp 300 Höhenmeter mehr als gestern. Zum Glück werden diese sich diesmal besser über die Strecke verteilen. Zumindest denken wir das, als es gleich die ersten Kilometer in Eisenach an einem Schilderwald vorbei kilometerlang bergauf geht – alle bilden einen großen Wandertrupp. Die folgenden Downhills, die nicht sehr steil sind, laufen sich sehr angenehm.
Der 1. VP erwartet uns nach 14 km in Hörschel, wo der Rennsteig offiziell beginnt. Hier lassen Antje und ich uns nicht viel Zeit und sausen zusammen mit Andreas Baur schnell wieder los. Plötzlich sind alle Höhenmeter weg, es geht nur noch weit und breit geradeaus. Blöderweise zum Ersten ist viel Grün um uns herum, aber wenig Busch, und davon bräuchte ich gerade mal… Blöderweise zum Zweiten sind ja auch gefühlt mal wieder alle aus der Laufgruppe wenige hundert Meter hinter uns. Irgendwann bleibt mir nichts anderes übrig, als alle vorbeiziehen zu lassen – andere Menschen als wir sind hier zum Glück gerade nicht unterwegs – um kurz mal auszutreten. Bis alle an mir vorbei sind, dauert es aber schon eine Weile, so dass Antje und Andreas weit am Horizont verschwunden sind, als ich wieder auf den Radweg trete.
Die nächsten Kilometer bis zum VP 2 bei km 23 gestalten sich also für mich zu einer gefühlten Aufholjagd, bis ich Antje (und Andreas und Ralf und die halbe Gruppe) an der Creutzburg wieder eingeholt habe. Puh. Schließlich ist es netter, wenn man den Tag gemeinsam erleben kann und nicht allein den Track finden muss. Insofern schön, dass es hier ein WC gibt, das viele von den anderen genutzt haben, und der VP mit Aussicht zum länger-Verweilen einlädt. Sonst wäre es mit dem Einholen wohl noch deutlich anstrengender geworden.
Am VP steht zusammen mit Versorgerin Antje Lehmann auch Christiana Schütze (Tina), die gleich am ersten Tag Knieprobleme bekommen hatte und sich kurzfristig entschlossen hatte, ins Versorgerteam zu wechseln. Strahlend empfängt sie uns und ist auch den Rest der Woche jeden Tag an 2 VPs mit bester Laune am Start, statt sich die Woche von ihrem Knie vermiesen zu lassen. Mentale Stärke zeigt sich halt nicht nur beim Laufen.
Das Finden des richtigen Tracks erweist sich heute gerade im zweiten Teil als echte Herausforderung – nicht selten ist auf der Karte meiner Uhr nur ein einziger Weg zu sehen, es gibt aber mehrere Pfade – oder aber der Track ist recht eindeutig, der Weg aber nur mit Spürsinn zu entdecken, weil er sich hinter Büschen versteckt oder quer über eine zugewachsene Wiese geht. Wer hier im Trupp mit mehreren unterwegs ist, hat Vorteile, weil jeder ein bisschen rumprobieren kann und dann recht schnell die richtige Navigation gefunden ist.
Auf dem letzten Drittel merke ich, dass ich bei meinem „Sprint“ zu VP 2 wohl doch recht viel Energie verballert habe: Ich tue mich immer schwerer damit, mit Antje mitzuhalten. Immer wieder zieht sie voraus. Nach VP 4 sehe ich sie das letzte Mal, denn kurz auf diesen folgt ein „Single-Trail mit schöner Aussicht“, auf dem ich mich dank meiner bekannten Fallsucht sehr auf den Untergrund (und weniger bis gar nicht auf die Aussicht) konzentrieren muss, so dass Antje irgendwann weg ist. Auch Claudia überholt mich auf diesem Stück, die in der schnellen Gruppe gestartet ist – ganz offensichtlich zu Recht, wenn sie uns jetzt einholt. Sascha ist natürlich schon seit Stunden über alle Berge, er hatte uns heute bereits bei km 30 überrundet…
Ich bin froh, am Ende des Single-Trails bei km 47 und damit VP 5 angelangt zu sein, wo sich die Versorgerinnen Antje und Tina bemühen, mich mit neuer Energie in Form von Cola und mentalem Zuspruch zu versehen. Ich selbst versuche mich damit zu motivieren, dass es nur noch 6 km bis ins Ziel sind. Diese werden allerdings navigations-mäßig nochmal zu einer echten Herausforderung: „Falsche Strecke“ heißt es nach einer V-Weggabelung mit einem Waldweg auf- und einem Waldweg abwärts (den ich genommen hatte). Also wieder umgekehrt und den Weg nach oben genommen – wieder „Falsche Strecke“ und der Pfeil meiner Uhr noch weiter neben dem Track als zuvor. Also war doch der Weg nach unten richtig – argh. Um nicht wieder 500 Meter zurück laufen zu müssen, klettere ich so schnell und gleichzeitig vorsichtig wie möglich einen relativ steilen Hang hinunter, bis ich wieder auf dem unteren Weg lande. Bin froh, dass ich nicht falle und fluche trotzdem durch die Gegend, während mir das stellenweise unvermeidbare Gestrüpp am Hang die Beine zerkratzt. Hört ja keiner.
Anschließend noch etwas entlang auf dem Forstweg und dann endlich ist der Wald zu Ende und es sind nur noch 3 km durch Dorfstraßen bis ins Ziel. Downhill allerdings. Den mögen meine Beine gerade gar nicht (mehr). Für meine kaum gedämpften Trailschuhe war das Pflaster heute wohl doch zu asphaltig. Vor allem beim schnellen Rennen. Meine Füße brennen, das gibt nicht nur eine Blase… Puh, einfach mal kurz ein paar Schritte Gehpause… Plötzlich laufen Andreas Jackisch und Heinz Zipprian von hinten auf mich auf, gehen ein Stück neben mir mit – und Motivationssprüche prasseln auf mich ein. Ist ja gut, Jungs… Da trabe ich natürlich wieder los. Zwei Kilometer können mit brennenden Füßen sooo lang sein, und der letzte davon nochmal besonders. Aber irgendwann ist es geschafft und wir laufen nach 8:43h zu dritt ins Ziel.
Aktion des Tages: Kurz nachdem wir den 1. VP verlassen haben, überholt uns an einer kleinen Straße ein Pick-up mit einer Mülltonne auf der Ladefläche. Der SUV hält 500 Meter vor uns, eine ältere Dame um die 70 steigt aus und klettert auf die Ladefläche. Dort beginnt sie die offensichtlich schwere Tonne anzuheben und will sie – wie auch immer – vom Auto abladen (Tonne ist sichtlich zu schwer für sie). Mittlerweile am Pick-up angekommen und gerade zu dritt unterwegs, fragen wir, ob wir helfen können? Sie, voll enthusiastisch: „Ach ja, das wäre sooo toll!“ Zu dritt hieven wir Läufer die nicht leere und ergo schwere Tonne vom Wagen und stellen sie auf der Straße ab. Die Dame bedankt sich überschwänglich und wir ziehen weiter. Wohin sie mit der Tonne ist und warum, erfahren wir nicht mehr, verbuchen es aber als gute Tag des Tages und als eines der irren Erlebnisse unterwegs, die man später immer gut zum Besten geben kann.
3. Etappe: Sontra – Felsberg (52 km – 1.370 Hm) / Dienstag, 25. Mai 2022
DER TAG DER RUTSCHIGEN HÄNGE
In der Nacht war ein Gewitter über Sontra hinweggezogen, verbunden mit brachialen Regengüssen seit dem Abend. Entsprechend feucht dürfte der Untergrund sein. Antje entscheidet sich dafür, ihre Stöcke mitzunehmen. Ich nicht, ich habe nämlich eh keine – aber der Großteil der Truppe ebenfalls nicht. Wieder bleibt unsere Startgruppe anfangs weitgehend zusammen. Als es ca. ein, zwei Stunden nach dem Start anfängt erst zu nieseln und dann zu pladdern, trennt sich die Gruppe – weniger tempomäßig als in die „Regenjacken-Anzieher“ und die „Lieber-in-nassem-Shirt-Läufer“. Beide „Teams“ sind aber froh, als der Regen mittags langsam wieder blauem Himmel weicht.
Einige Downhills am Morgen – überwiegend Wiesen- und Waldwege und nicht allzu steil – fliege ich nur so runter und bin erstaunt über mich selbst. Leider wird es auch das letzte Mal, zumindest auf diesem Etappenlauf sein, dass mir Downhills so richtig Spaß machen. Doch das wird mir erst sehr viel später bewusst werden.
Lief das erste Drittel noch gut, wird es bei mir nach VP 2 (km 27) ziemlich zäh. Ich verfluche meine Schuhwahl von gestern, ich fühle mich, als hätte ich noch sämtliche Erschütterungen in den Beinen. Antje scheint zu ahnen, dass ich ihr Tempo heute nicht halten kann und dockt sich an unseren Marineoffizier Andreas Bauer – mit dem sie auch den kompletten Rest des Etappenlaufs bestreiten wird. Ich komme mir – bei den Versuchen, wieder auf die beiden aufzuschließen, vor wie ein Kind, das beim Sonntagsspaziergang versucht, mit seinen Eltern Schritt zu halten. Bis VP 3 (km 33) an Schloss Spangenberg bleibe ich einigermaßen dran und es gibt nochmal ein gemeinsames Foto mit uns dreien sowie Andreas Jackisch, Jörn und Harald. Kurz darauf geht es auf rutschigen Steinen runter von der Burg ins Tal – so gar nicht mein Untergrund – womit alle 5 dann weg sind.
Zum Glück ist der Track heute nicht schwer zu finden, nur am Bahnhof in Melsungen verfranse ich mich, weil ich den Weg über die Schienen nicht gleich finde. Das ist kurz nach dem 4. VP bei km 44. Von hier sind es noch 8 km bis ins Ziel. Die nehmen allerdings gefühlt kein Ende, speziell ein kilometerlanger Teil durch hochgewachsene Wiesen mit Gestrüpp und Brennnesseln, die mir die Beine zerkratzen. Morgen werde ich auf jeden Fall meine Stulpen anziehen, warum habe ich das bloß nicht schon heute gemacht? Die folgende Asphaltstrecke Richtung Burg wiederum mögen meine Schienbeine nicht, speziell das linke fühlt sich an wie geschreddert. Der Lauftag gestern mit den schlecht gewählten, dünnsohligen Schuhen fordert seinen Tribut…
Ich kann jetzt kilometerweit blicken, sehe aber niemand vor mir. Bestimmt sind alle schon seit einer Stunde im Ziel. Ich bin frustriert, habe keine Lust mehr und pushe mich dennoch, um irgendwie unter 8 Stunden anzukommen. Irgendwie brauche ich ein Ziel, um mich weiterzuquälen. Gehen, anlaufen, gehen, anlaufen. Als ich endlich, endlich Burg Heiligenberg erreiche und auch das gut versteckte Zielbanner hinter der Burg entdecke, sacke ich nur noch auf einem der Plastikstühle dort zusammen. Auf Ninas liebevolle Frage, was ich möchte – sie meint Bier oder Brause oder Schokolade – antworte ich: „Eine Klasse wiederholen“. Ich fühle mich gerade, als wäre ich auf der Schule für Ultraläufer sitzen geblieben: Wieso können alle durchlaufen, bloß ich nicht? (Was gar nicht stimmt, weil – außer Sascha vielleicht – kaum jemand komplett ohne Gehpassagen auskommt und ja auch nach mir noch Teilnehmer ins Ziel laufen. Die gefühlte Wahrheit ist aber gerade anders…)
Irgendwie schaffe ich es in die Dusche – Antje ist tatsächlich eine Dreiviertelstunde vor mir angekommen und längst fertig – und zum Gemeinschaftsraum im Haupthaus zum Essen. Im Gegensatz zum Vortag ist das Abendessen sehr vielfältig und lecker. Die Angestellten wundern sich über das allseitige, überbordende Lob unserer hungrigen Truppe (sie können ja nicht wissen, dass wir gestern in der kulinarischen 80er-Jahre-Hölle waren).
Irgendwer hatte ganz am Anfang den Satz fallen lassen, wer den dritten Tag schafft, schafft auch den ganzen Lauf. Das kann ich gerade kaum glauben. Mein Schienbein zwiebelt ordentlich und der Beinumfang unten links ist auf jeden Fall größer als rechts. Ich erinnere mich: Solche Schienbeinprobleme hatte ich 2016 beim Balaton-Etappenlauf schon mal. Auch da war es nach dem 3. Tag. Der Unterschied: Der Lauf war nach 4 Tagen zu Ende. Hier haben wir gerade mal die Hälfte geschafft…
Dialog des Tages: Im Hotel raunt eine Mitarbeiterin mit undefinierbarem Akzent so im Vorbeigehen: „Wenn I soweit laufa tät wie Sie, täta mir die Füße weh.“ – „Naja, mir tun ja auch die Füße weh..“ „Aber Sie laufe trotzdem noch weiter?“ „Ja, das ist der Plan.“ – „Na, das tät I nie.“
4. Etappe: Felsberg – Hessenstein (etwa 56 km – 990 Hm) / Mittwoch, 26. Mai 2022
DER TAG DER KNAPPEN CUT-OFFS
Es ist 8 Uhr und ich stehe am Frühstart. Antje nicht, die war gestern mit ihrem Marineoffizier so schnell, dass sie von der Rennleitung in die „schnelle Gruppe“ versetzt wurde. Ohnehin ist mir klar, dass mich ein einsamer Tag erwartet, weil ich mir nicht sicher bin, ob und wie gut ich heute überhaupt laufen kann. Aber dass ich es versuche, ist keine Frage..
Antje und Claudia, die sich als Physiotherapeutin berufshintergrundbedingt sowieso wie so oft auch bei diesem Etappenlauf um die Wehwehchen der Läufer kümmert, hatten am Vorabend alles gegeben und versucht, mich mit Kühlpacks und einem von Heiko abgeschwatztem Zinkverband, mich wieder in einen lauffähigen Zustand zu bringen.
Das ist ja das Schöne an solchen Veranstaltungen, man hat keine Konkurrenz, sondern ist trotz aller Tempo-Unterschiede ein Team mit dem Ziel, diesen sechstätigen Lauf mit all seinen Höhenmetern zu bezwingen – wir wollen gemeinsam (nach) Siegen.
Ich war früh morgens kurz versucht gewesen, Harald und Nina wegen eines Frühstarts zu fragen – zwei etwas ältere Läufer aus der Gruppe, Sari und Franz, starten ohnehin schon immer eine bis eineinhalb Stunde vor der „langsamen Gruppe“, um die Cut-offs halten zu können. Irgendwie will ich dann aber auch keine Extra-Wurst, und wie hatte Harald es gestern mit Blick auf mein dickes Schienbein ausgedrückt? „Wenn du morgen ein Problem hast, wird es nicht das Tempo sein.“ Sprich: Entweder du kannst laufen – oder halt nicht.
Was ich mit diesem Schienbein aber jedenfalls nicht – und sowieso nicht gut – kann, ist steile, rutschige Downhills laufen. Genau so einer aber erwartet mich – und natürlich auch alle anderen – auf den ersten 400 Metern. Da geht es nämlich von vom Burghotel Heiligenberg direkt nach unten in den Ort Felsberg – einen schmalen, schattigen, matschig-nass vergrasten Wanderweg nach unten, der entsprechend rutschig ist. Ich lasse alle anderen den Vortritt respektive Vorlauf – und bis ich unten auf der Straße ins Licht trete, sind die andern längt weg. Ich sehe sie nicht mal mehr. Stehen bleiben war aber ein Fehler, denn damit kann eine Laufuhr nicht umgehen, der Richtungspfeil auf der Karte dreht sich munter um sich selbst und ich laufe erstmal in die falsche Richtung.
Zum Glück fällt das der Uhr dann doch schnell auf und ich kehre um. Auf Asphalt und weniger steil geht es jetzt in den Ort und anschließend auf Fahrrad- und Feldwegen wieder heraus. Ich trabe langsam vor mich hin und stelle erfreut fest, dass es ganz gut geht, lockere 7er-Pace ist problemlos drin, Schienbein schweigt still.
Darüber bin ich ganz froh, denn wahrscheinlich werde ich die jetzige Pace zum Ende hin noch brauchen, auch wenn – und auch darüber bin ich froh – für die heutige Etappe „gut laufbare, abwechslungsreiche Wege“ angekündigt wurden und die Strecke zudem fast ausschließlich auf dem „Weg der Deutschen Einheit“ verlaufen soll. Das schürt in mir die Hoffnung, dass die Navigation deutlich einfacher sein wird als am Vortag. Das wird schlussendlich auch so sein, mein Glück.
Schon vor dem 1. VP holt mich nach knapp 11 km Sascha ein, der mit der schnellen Gruppe eine Stunde nach mir gestartet ist. Wie immer nimmt er sich Zeit für einen kurzen Plausch, bis er wieder davon rauscht. Am 1. VP (km 14) bei Olaf und Elke (mit dem Hinweisschild „Was wir nicht haben, braucht ihr nicht!“) bin ich super in der Zeit. Bei VP 2 (km 22) hole ich Sari ein, hier haben wir beide noch eine halbe Stunde Zeit auf den Cut-Off. Allerdings hat es sonst deutlich länger gedauert, bis ich sie als Frühstarterin eingeholt hatte – kein gutes Zeichen für ihren Lauf, denn ich bin ja langsamer als die Vortage unterwegs. Tatsächlich wird sich am Abend herausstellen, dass sie es an diesem Tag nicht geschafft hat, den Lauf zu beenden.
Ich eile wieder los, denn einige Höhenmeter warten – und zwar ein paar navigationsreiche, inklusive dem Part „seitliches Vorbeiklettern an einem Teich, der einfach den eigentlichen Weg einnimmt und unlaufbar macht“. Auf jeden Fall verliere ich auf diesem Stück 15 Minuten – d.h., 15 Minuten vor Cut Off treffe ich am VP 3 (km 30) bei Harald und Nina ein. Beide sind aber optimistisch, dass ich den abendlichen Cut-off mit diesem Zeitpuffer schaffe. Euer Wort in Gottes Ohr.
Erfreulicherweise ist das folgende Stück bis VP 4 zwar etwa 11 km lang, aber tatsächlich wieder besser laufbar als das vorherige. 20 min vor Cut-off treffe ich bei Olaf und Elke ein (also wieder 5 Min. gut gemacht!) und lasse mir nur sehr wenig Zeit am VP, auch wenn die beiden den VP 4 jeden Tag mit Specials gestalten – heute z.B. Würstchen, aber da ich die eh nicht mag, ist es kein Drama für mich, diese zu verpassen.
Ab hier sind es noch 15 km bis zum Ziel bei km 56. Es werden sehr lange Kilometer, von denen ich einen Großteil wandere. Immer mit Blick auf die Uhr, denn der Cut-off ist zu schaffen, allerdings nicht mit nur gemütlich wandern. Also wieder: Gehen, anlaufen, gehen, anlaufen… Uff. Mit strahlendem Lächeln und Applaus empfangen mich Antje L. und Tina bei knapp km 50. Nochmal Akkus aufladen (physisch mit Malzbier, Kartoffeln und gesalzener Gurke) und psychisch: „Also du siehst auf jeden Fall noch besser aus als Ralf und Franz, und die sind auch grade erst durch…“ Na dann, auf zu den letzten 6,5 km. Wir übernachten heute auf einer Burg, was das heißt ist klar: Irgendwo „oben“, auf einem Berg. Meine Uhr zeigt entsprechend noch so einige Höhenmeter an. Ich kann mich gar nicht mehr wirklich an die Umgebung erinnern, der Blick ging immer nur zur Uhr und in Richtung der direkt vor mir liegenden Meter. Schließlich reicht es, wenn mein Schienbein überlastet ist, da will ich nicht übermüdet auch noch stürzen.
Ziemlich platt, aber mental deutlich besser drauf als am Tag zuvor, komme ich im Burghof an. Beim Abendessen bitte ich dann Harald und Nina aber doch um einen Frühstart am nächsten Morgen, um nicht so viel Stress mit den Cut-offs zu haben und vielleicht abends auch mal mehr als eine halbe Stunde zum Duschen und Umziehen – denn heute ich bin zwar eine Viertelstunde vor Cut-Off im Ziel, aber auch nur eine halbe Stunde vor dem Abendessen…
Hier auf der Burg bekommen wir Läuferinnen alle ein gemeinsames Zimmer, natürlich wieder mit Stockbetten: Jugendherberge lässt grüßen – auch nachts, als beim Gang zur Toilette immer der Zimmerboden quietscht und automatisch das Licht im Bad (direkt am Zimmer) angeht. Gut, dass ich nicht das Bett neben der Badezimmertür habe… Trotzdem schlafe ich genau wie wir laufen, nämlich etappenweise, mit ziemlich vielen Unterbrechungen. Das ist aber auch nicht anders als in den Vor-Nächten und mir mittlerweile egal. Hauptsache ich kann liegen und wenn der Körper Schlaf braucht, wird er schon schlafen…
Der Spruch des Tages: Claudia, auf meine Überlegungen, ob es sinnvoll ist, sich am kommenden Tag mit angeschlagenem Schienbein über 60 km zu quälen: „Der Schaden ist eh da, es kommt jetzt darauf an, willst du mit diesem Schienbein laufen oder nicht?“
5. Etappe: Hessenstein – Bad Laasphe (60 km – 1.460 Hm) / Donnerstag, 27. Mai 2022
DER TAG VOLLER QUÄLEREI
Nunja, ohne Schienbein laufen ist keine Option, also mit diesem Schienbein. Nina und Harald hatten beim gestriegen Abendessen angeboten, dass ich – und auch Ralf, der sich seit gestern ebenfalls mit Schienbeinproblemen herumplagt – jederzeit starten können. Entweder direkt am Frühstart um 6.30h, den Sari und Franz machen, oder auch erst um 7 Uhr oder wann immer wir wollen. Die „langsame“ Gruppe soll um 8 Uhr los. Da es vor 7 Uhr in den Unterkünften meistens kein Frühstück gibt, profitiere ich genauso wie bereits Franz und Sari zuvor von dem „Früh-Frühstück“, das Elke und Olaf ab 5.30h (!) mit Kaffee und Brötchen zaubern. Das ist große Klasse, denn 60 km ohne Frühstück wären Mist. Ja, heute erwartet uns mit 60 km die zweitlängste, und vor allem mit knapp 1500 Höhenmetern die bergigste Strecke des Etappenlaufs.
Beim Früh-Frühstück treffe ich auf Ralf, der eigentlich direkt um 6.30h los wollte, aber jetzt meint, das nicht zu schaffen. Passt mir gut, da muss ich nicht so hetzen und habe trotzdem noch eine potenzielle Begleitung für heute. Wir starten gemeinsam um 6.45h und sind uns einig, dass wir eine Mischung aus Laufen und schnellem Gehen versuchen werden, ohne dass sich irgendjemand gezwungen fühlt, das Tempo des anderen zu halten oder sich einbremsen zu müssen.
Mit dieser Vereinbarung kommen wir über den ganzen Tag – mal quält sich der eine von uns mehr, mal der andere – aber wir kommen gut voran mit anfangs sechs bis sieben km pro Stunde und können daher den Cut-offs viel entspannter entgegen sehen als ich gestern. Trotzdem ist das Laufen immer wieder eine Qual. Wir halten uns damit aufrecht, dass der jeweils andere sich genauso quält und wir am Ende des Tages sozusagen fast am Ziel sind…
Was mir aber Sorgen macht, ist der schwächelnde Akku meiner Uhr – denn ohne den Track ist man aufgeschmissen, und es ist ja nie sicher, seinen Laufpartner den ganzen Tag an seiner Seite zu behalten. Doch bevor mir der Akku oder Ralf abhanden kommt, stößt zwischen VP 4 (km 43) und VP 5 (km 50) Andreas Jackisch zu uns – während wir dachten, mittlerweile hätten uns schon alle aus den anderen beiden Gruppen überholt. Andreas aber war, wie er jetzt erzählt, mit dem Fuß umgeknickt – nicht auf einem technisch anspruchsvollen Single-Trail oder steilen Downhill, sondern auf einem breiten Waldweg. Typischer Fall von „dumm gelaufen“. Seitdem kam er wie wir auch nur noch im RunAndWalk-Modus voran.
Während wir nun also zu dritt run-and-walken, denke ich laut darüber nach, dass es sinnvoll gewesen wäre, für den Notfall eine Powerbank mitzunehmen. Andreas zaubert daraufhin sogleich eine aus seinem Rucksack – was mich dazu veranlasst festzustellen, dass diese mir ohne Ladekabel für die Uhr gar nichts bringt. „Was hast du denn für eine Uhr?“, fragt er, und als ich „Garmin“ sage, zieht dieser Mann auch noch das passende Kabel aus seinem Rucksack. Schon hier, aber spätestens am nächsten Tag – an dem es über Stunden kühl auf uns niederpieselt und der uns überholende Gunnar über seine abgefrorenen Finger klagt – worauf Andreas Handschuhe aus seinem Rucksack zaubert – warte ich nur noch darauf, dass er als nächstes ein aufblasbares Zelt aus seiner als Laufrucksack getarnten „Wundertüte“ zieht.
Um 18:18 Uhr, zwölf Minuten vor Cut-Off laufen wir ins Ziel ein. Ja, wir laufen ein, zu dritt, nebeneinander, weil man das so macht und wir stolz auf uns sind, es geschafft zu haben, auch wenn ich mich nicht so recht erinnern kann wie; nur daran, dass der letzte Teil wieder schmerzhaft und zäh war. Und dann sind wir jetzt auch noch auf Schloss Wittgenstein. Wieso „auch noch“? Ist doch idyllisch? Jaja, ist es ja auch.
Aber: Wie es sich für ein Schloss gehört, hat es Wendeltreppen und das Schlafzimmer von uns Läuferinnen liegt im 3. Stock. Kein Scherz. Und schon gar kein Aufzug. Mir ist schleierhaft, wie ich da ins Zimmer und zur Dusche hoch-, geschweige denn zum Abendessen wieder herunterkommen soll. Ich bin Antje, Claudia und Nina dankbar, die sich heute – wie bereits am vorherigen und auch kommenden Tag – um meinen Koffer kümmern. Speziell diese Wendeltreppe hätte ich ihn (und mich) sicher nicht hochgekriegt, ohne runterzufallen.
Irgendwie wanke ich in die Dusche – meine Kompressionsstulpen lasse ich an, weil ich sie nicht von den Waden kriege – und schaffe es auch runter zum Abendessen, bevor alles abgeräumt ist. Ich hätte gut Lust gehabt, auf dem Bett oben liegen zu bleiben, aber der Mensch muss was essen, die Ultraläuferin sowieso, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als irgendwie nach unten zu wanken. Die anderen essen längst, aber es ist noch genug übrig. Ein langer Abend wird es auch heute wieder nicht, alle verziehen sich früh. Aber im Gegensatz zu mir hatten meine Zimmergenossinnen Claudia und Antje (neben mir die einzigen verbliebenen Frauen im Rennen, nachdem Tina und Sari am zweiten bzw. vierten Tag aufgeben mussten), schon ein paar Stunden Zeit sich ihre Sachen für den letzten Tag rauszulegen. Als ich vom Zähneputzen komme und damit anfange, muss ich es bei Lichtschein meiner Nachttischlampe tun, denn die anderen schlafen schon.
Schlafen kann ich aber ohnehin wieder nicht wirklich, ich lege mich nur todmüde ins Bett. Meine Fußsohlen brennen, inzwischen eine untrennbare Mischung aus Hornhaut und Blasen. Mein linkes Schienbein ist nach dem Lauf heute auf Rekorddicke angeschwollen und schickt Feuerpfeile durch meinen Unterschenkel. Bestimmt dreimal in der Nacht stehe ich auf, um ins Bad zu gehen – das heißt, ich will gehen, es ist aber mehr ein vor allem auf den rechten Fuß gestütztes Wanken und Humpeln, da ich mit links kaum auftreten kann. Um ins Bad zu kommen, muss ich über einen bestimmt 40 Meter langen Flur, da unser Zimmer an dem einen Ende des Flures und das Bad am anderen Ende liegt – ein weitläufiges Schloss hat so seine Nachteile. Für jeden dieser „Ausflüge“ brauche ich bestimmt 20 Minuten. Gefühlt wird der Gang jedes Mal länger und mein Gang verkrampfter, ich humpele in immer kleineren Schritten bis ins Bad und wieder zurück. Um vier Uhr morgens steht mein Beschluss fest, dass ich am Morgen nicht starte – denn wenn ich für 50 Meter meine Füße nicht voreinander kriege, habe ich erst recht keine Ahnung, wie ich 10 Stunden lang Minimum 5 km pro Stunde laufen bzw. vorankommen soll. Denn es stehen für den letzten Tag nochmal 50 km auf dem Programm – der Frühstart ist um 7 Uhr, und der Zieleinlauf muss spätestens um 17 Uhr erfolgen.
Poesie des Tages: Wir erfreuen uns bei km 50 am gelb blühenden Wegesrand, Andreas will unbedingt ein Foto von uns „laufend inmitten des Ginsters“ machen. Macht er auch, Selbstauslöser, perfekt eingestellt, so viel Zeit muss sein. Bei mir setzt sich das Wort „Ginster“ in dem Teil des Gehirns fest, in dem eine umfassende Menge an Gedichten, Liedtexten und -fragmenten gespeichert ist. „An den Hängen der Eisenbahn leuchtet der Ginster so gut“, zitiere ich, und die Jungs machen fragende Gesichter. Ich brauche eine Weile, um mir das gesamte Gedicht von Ringelnatz ins Gedächtnis zu rufen, kann es dann aber einigermaßen fehlerfrei aufsagen. Und schon sind wir wieder 5 km weitergekommen in der Zwischenzeit und somit fast am Ziel des heutigen Tages. Gedichte als Lauf- und Lebenshilfe.
6. Etappe: Bad Laasphe – Siegen (50 km – 1.290 Hm) – Freitag, 28. Mai 2022
DER TAG DES WÜTENDEN WOLLENS
Da dies ja kein Live-Bericht ist, braucht es keinen Spoiler um festzustellen, dass ich am Ende doch gestartet bin. Warum? Eigentlich nur, weil ich morgens um 5.00 Uhr – 15 Minuten vor Weckerklingeln – beim ziellosen Herumstromern im Zimmer und der inneren Frage, wie ich mein Nicht-Starten den anderen am besten erkläre oder ob das überhaupt notwendig wäre, folgende SMS bekam: „Viel Spaß bei der letzten Etappe! Wobei der Spaß bei dir aktuell nicht sehr groß sein kann. Ab der vierten Etappe hat man von dir jedenfalls weder etwas gelesen noch ein Foto gesehen!“ Ach so, Facebook-Postings sind der Indikator für Spaß und Erfolg? Ja, gestern hat wehgetan, und klar, ich wäre super gerne früher im Ziel gewesen die letzten Tage, hätte entspannt zu Abend essen, Klamotten vorbereiten und vielleicht noch etwas Kurzes in Social Media posten können – aber dazu fehlten mir die Zeit, die Kraft und auch die Nerven. Die brauchte es, für anderes. Und ich dachte an Andreas und Ralf. Bei keinem von uns war gestern Abend sicher, ob er die Etappe heute würde antreten können. Aber wenn, dann würden wir gemeinsam starten, gemeinsam diesen letzten Tag meistern – das war unser stiller Pakt seit dem Queren der Ziellinie am Vortag. Und wenn jetzt einer der Jungs nicht antrat, nicht antreten konnte – dann müsste der andere sich allein durchschlagen, wenn ich jetzt aufgab. Und davor, heute alleine unterwegs zu sein, gruselte uns wohl allen.
Aber vor allem entfachte diese Nachricht Wut in mir. Da wünscht man sich mentale Unterstützung und kriegt – sowas. Und stimmte es, dass wir, dass ich keinen Spaß gehabt hatte(n) gestern oder am Tag davor? Definitiv nein. Der mental schlimmste Tag (mal abgesehen von der gerade absolvierten Nacht) war der dritte gewesen, als der Schienbeinschmerz und das Zurückfallen begann, der gemeinsame Lauf mit Antje für den Rest des Etappenlaufs absehbar vorbei und die verbleibenden Etappen, die noch zu absolvierenden Kilometer und die noch zu erklimmenden Höhenmeter so zahlreich gewesen waren. Die Wut entfacht das Adrenalin, das Adrenalin neutralisiert den Schienbeinschmerz (der nachts sowieso immer schlimmer war als morgens) und unversehens bin ich dabei, die Jeans wieder in den Koffer zu legen und die Laufsachen anzuziehen. Aufhören kann ich schließlich immer noch. Und in meiner Vorstellung lockt der erfreute Gesichtsausdruck von Ralf und Andreas bei meinem Antritt zu Start auch deutlich mehr als die mitfühlenden Blicke der übrigen Läufer, wenn ich in Jeans und Shirt zum Frühstück käme…
Das Wetter ist es allerdings nicht, was lockt. Es nieselt und pieselt und soll auch bis zum frühen Nachmittag so bleiben, bei eher frischen Temperaturen. Definitiv der wettermäßig schlechteste Tag dieser Woche. So zeigt das Startfoto uns auch nicht freudig am Banner, sondern regenjackenverhüllt von hinten, wie wir im Regendunst aus dem Umkreis der Burg verschwinden.
Für Optimismus meinerseits sorgt eine ganz besondere Entdeckung am Wegesrand – auf den Baumstumpf, den ich ansteuere, um einen Stein aus meinem Schuh zu entfernen, hat jemand ein Hufeisen genagelt… Also ich bin ja nun überhaupt nicht abergläubisch, aber das muss doch Glück bringen, oder?!
Andreas übernimmt das Zeitmanagement – ganz genau 5 km/h müssen wir schaffen. Andreas selbst stramm marschierend, weil er laufend überhaupt nicht auftreten kann, Ralf und ich laufen immer mal wieder kleine Abschnitte, was bei uns noch abschnittweise funktioniert, dafür können wir Andreas Marschtempo beide nicht halten.
Zusatzherausforderung heute ist die nicht eben ebene Strecke auf oft wenig wegemäßigem Untergrund. Und auch die Navigationsherausforderungen werden wieder größer. Zitat Sascha (abends): „Das ging ja so weit, das eine Mal habe ich tatsächlich gedacht, der Weg wäre hinter einem Holzstapel versteckt. Da bin ich über den Stapel geklettert und dann war er da doch nicht!“ Genau, es ging einfach direkt vor diesem Holzstapel einmal rein ins Gestrüpp. Dahinter war dann der Weg.
Wir schaffen unsere Pace, aber viel mehr auch nicht. Es ist also schon kein Puffer mehr da, als wir bei VP 1 (km 10) von Nina erfahren, dass der geplante folgende Streckenabschnitt – wegen Sturmschäden? Bauarbeiten? Arbeiten wegen Sturmschäden? naja, auf jeden Fall – gesperrt ist. Und dass wir einen Umweg laufen müssen, um wieder auf den Track zu kommen. Wie lang dieser Umweg genau sein wird, weiß da noch keiner. Wie sich herausstellt, führt er uns zunächst ein ganzes Stück entgegen des Tracks auf einer Landstraße entlang, um schließlich nach ca. 1 km einen alternativen Waldweg hochzuführen, welcher uns zu dem eigentlichen Track zurückführen soll. Tut er nach knapp 1,5 weiteren Kilometern auch, womit wir wissen, dass die Stecke heute statt 50 knapp 53 km lang sein wird. Da wir nichts „rausrennen“ können, haben wir damit keine Chance mehr, den ursprünglichen Cut-off um 17 Uhr zu schaffen.
Angesichts des Umwegs entscheidet die Rennleitung aber, den Zielschluss auf 17.30 Uhr zu schieben. Das ist kein Riesenpuffer, aber damit würden wir mit dem Tempo von 5 km/h wieder noch knapp rechtzeitig ankommen. Uff. Mit durchgehendem Tempo versteht sich, inklusive Pausen, weswegen die Pausenzeiten an den VPs (über die Andreas streng wacht) extremst limitiert sind. Sie wegzulassen wäre aber auch blöd – die Energie, die wir dort aufnehmen, haben wir bitter nötig.
Die Strecke ist wie im Plan beschrieben heute alles andere als einfach, und als bei ca. km 15 ein Stück auf uns wartet, das nicht nur downhill führt, sondern auch noch durch Gestrüpp und Unterholz, bin ich mir nicht mehr sicher, ob mir das Hufeisen-Glück wirklich hold ist. Hier schaffen wir, und insbesondere ich, jedenfalls keine 5 km/h, und was, wenn auf den kommenden Streckenabschnitten noch mehr solcher Abschnitte warten? Bringt aber nichts, sich damit zu beschäftigen, auch Andreas brauche ich mit solchen Gedanken nicht kommen. Das merke ich, als ich (endlich) wieder auf ihn (und Ralf) aufschließen kann und versuche, meine Zweifel zu äußern. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was er gesagt hat, aber es läuft auf „Nicht denken, laufen!“ hinaus. Er hat ja auch recht und: Hey, und das ist doch genau das, was ich so als bürogestresster Dauerdenker für diese Woche gewollt hatte, oder?
Und, auch wenn ich das hier noch nicht weiß, es sollte tatsächlich der letzte fiese Abschnitt dieses Etappenlaufs sein. Ok, die steilen Treppen auf den letzten 2 km in Siegen würden auch nicht nett sein, aber auf den letzten 2 km ist einem schon so ziemlich alles egal.
Jetzt, auf der 2. Hälfte, ist es Ralf, der es am schwersten hat – als wir den letzten VP des Tages bei Olaf und Elke erreichen, sinkt er nur noch auf die dort vorhandene Bank und gibt ein „Ok, das war´s für mich, ich bin raus!“, von sich. Andreas und ich bemühen uns, schnell („Acht Minuten für diesen VP“, ließ Pace-Manager Andreas beim Erreichen desselben verlauten) noch irgendwie Energie – heute gibt es Nudelsalat bei Olaf und Elke – aufzunehmen. Derweil überlassen wir es erstmal Elke, Ralf mit einer Brühe wieder Lebensgeister einzuhauchen. Olaf hilft tatkräftig dabei, indem er beifällig „Hm, also ins Auto kriegen wir dich nicht, bis Siegen laufen müsstest du trotzdem“ dafür sorgt, dass die Ausstiegsvariante für Ralf maximal unverlockend klingt.
Das führt dazu, dass er unseren Aufforderungen, jetzt wieder zu starten, nur noch ein schwaches „Ich halte euch ja nur auf“ entgegenzusetzen hat. Das lassen wir aber nicht gelten – „Wir haben uns vorgenommen, zusammen anzukommen, und das machen wir auch.“ Ralf gibt auf – bzw. gibt nicht auf – steht wieder von der Bank auf und folgt uns schicksalsergeben.
Er ist aber tatsächlich ziemlich durch und kommt nur noch langsam wandernd voran. Es ist vielleicht etwas fies, aber die Tatsache, dass er so platt ist, gibt mir tatsächlich Auftrieb, und gemeinsam mit Andreas habe ich schon fast Spaß daran, mir immer wieder irgendetwas auszudenken, was Ralf zwingt, uns zu überholen und sich so nicht immer als Bremse zu fühlen. Stein aus den Schuhen pulen, nochmal in die Büsche verschwinden. Andreas gehen dauernd die Schnürsenkel auf.
Ralf wird am Abend beim Essen grinsend dazu sagen: „Also jetzt glaubt mal nicht, dass ich eure Taktik nicht bemerkt habe, aber es war ja auch echt ganz süß.“
Unsere Taktik scheint ihm Auftrieb zu geben, oder es ist die Aussicht, dass das Ziel nur noch wenige Kilometer entfernt ist – jedenfalls fängt Ralf bald abschnittweise wieder an zu laufen. Zusammen mit Andreas´ strammem Marschtempo und meinem RunAndWalk sind wir damit bald wieder genau im Zeitplan. Die letzten Kilometer werden zwar etwas frickelig, insbesondere aufgrund etwas undefinierbarer Wege durch einen Stadtpark, wo unsere Uhren uns mit „Falsche Strecke“ verhöhnen – aber letztlich landen wir irgendwie wieder auf dem Track, quälen uns noch über besagte Treppen und: versuchen schlussendlich die letzten paar hundert Meter auf dem Weg zum Ziel bewusst zu genießen.
Ja, genießen! Denn: Wir haben gleich 340 km und 7.000 Höhenmeter geschafft, sind sechs Tage lang fast den ganzen Tag lang gelaufen – und davon erleben wir gerade die letzten Meter – wie geil ist das denn?! Die letzten hundert Meter laufen wir tatsächlich, zu dritt, und gar nicht langsam, und im Ziel stehen nicht nur Nina und Harald, sondern auch fast alle anderen Helfer und Teilnehmer (sofern nicht grad unter der Dusche) und bereiten uns mit Spalier und Gejohle einen lautstarken Empfang – Gänsehaut garantiert. Auch wenn wir den Rest von diesem Tag wahrscheinlich irgendwann vergessen – dieser letzte Moment hat sich in uns allen dreien wohl fest eingebrannt.
Am Abend des letzten Tages:
ABSCHLUSSFEIER UND SIEGEREHRUNG:
Das Abendessen findet eine Stunde nach unserem Zieleinlauf statt, und zur Feier des Zieleinlaufs dürfen wir uns über Doppelzimmer freuen, die natürlich – juhu – die Dusche im Zimmer haben. Also habe ich relativ entspannt Zeit zu duschen, wenngleich nicht nicht mehr für eine Runde im Schwimmbad, aus dem Antje begeistert wiederkommt. Aber dafür brause ich meine Füße minutenlang mit eiskaltem Wasser, schon das ist gerade einfach genial.
Um viertel nach sieben gibt es dann erstmal ein ausgiebiges Abendessen am reichlich gefüllten Büffet, und nach den vielen Apfelschorlen und alkoholfreiem Weizen an den vergangenen Abenden erfreuen sich heute auch viele an einem kühlen Weißwein oder frisch gezapften Pils.
Großes Abschluss-Highlight ist die Siegerehrung – wie an jedem Abend werden alle Ergebnisse der Tagesetappe verkündet, und anschließend die Gesamtwertung. Für mich hat sich das Durchhalten so richtig gelohnt, auch formell – da zwei Läuferinnen aufgeben mussten, darf ich mich – mit einer Gesamtlaufzeit von 56 Stunden und 52 Minuten – sogar über Platz 3 in der Frauenwertung freuen. Als einziger den Lauf unter 40 Stunden geschafft hat Gesamtsieger Sascha (der zudem jeden Tag so aussah, als ob er nur mal eine lockere Runde zum Bäcker macht :-D). Aber die Stunden zählen irgendwie nicht mehr – wer nicht aufgibt, gewinnt. Das war selten so wahr wie heute.
Dialog des Tages (innerer, morgens ab 5.00h): „Es wird dir leid tun, wenn du heute startest (weil du dann heute Abend so richtig Schienbein-Probleme hast).“ – „Es wird dir leid tun, wenn du heute NICHT startest (weil dein Schienbein eh schon fieserabel dick ist und dann beißt du dir auch noch in den Arsch, weil du die eine letzte Etappe nicht mehr geschafft hast).“ – „Ich habe gar keine Lust in dieses Pisswetter rauszugehen und den ganzen Tag nass zu werden, stattdessen könnte ich lange frühstücken und in Siegen zwei Stunden ins Schwimmbad gehen.“ – „Ich habe noch viel weniger keine Lust in normalen Klamotten runterzugehen und als erste Amtshandlung des Tages allen erklären zu müssen, warum ich heute nichtmal starte.“ – So ging das hin und her und immer die Frage: Wer von euch Stimmen ist denn nun das berühmte Bauchgefühl, nach dem ich mich richten sollte??
FAZIT:
- Am Ende vom Etappenlauf bin ich geschafft, aber vor allem megastolz, den Etappenlauf geschafft zu haben. Auch wenn das Schienbein tatsächlich fieserabel dick geworden ist und ich wirklich, wirklich froh bin, am kommenden Tag NICHT laufen zu müssen – mit den ganzen Endorphinen fühlt sich das alles zumindest psychisch und dadurch wahrscheinlich auch physisch (ich glaube, es gibt da viel mehr Zusammenhänge, als die Schulmedizin zugeben würde) viel besser an als mit ein, zwei Tagen weniger laufen ohne Finish (und Endorphine). Auch gibt es ja keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen….
- Warum gibt man sich so einen Etappenlauf? Eine Woche Urlaub, in der man doch auch in der Sonne liegen könnte. 6 Tage für 340 km, die man in vier Stunden mit dem Auto fahren könnte… Ein Eintrag auf Facebook während der Woche hatte unterstellt, bei Etappenläufen „hechte man nur Cut-off-Zeiten hinterher, um am Ende des Tages einen DUV-Eintrag zu bekommen“… Ich habe darüber nachgedacht. Und festgestellt: Nö. Niemand, den ich kenne, nimmt an einem Etappenlauf wegen eines DUV-Eintrags teil (für die nicht Ultra-laufenden Leser: DUV = Deutsche Ultra-Marathon Vereinigung). Sondern so eine Teilnahme erfolgt aus ganz anderen Gründen – eine spontan geführte, nicht repräsentative Umfrage in unserer Gruppe ergab, wir machen das hier, um:
- tagelang nichts anderes zu tun als zu laufen, zu essen und zu schlafen – und dazwischen über laufen, essen und schlafen zu reden. Von dem anfänglichen Schnelltest abgesehen, war es eine komplette Woche ohne Corona, ohne Krieg und ohne Nachrichten. Insofern körperlich anstrengend, aber seelisch erholsam ohne Ende.
- zu spüren was man leisten kann. Klar, man muss laufen mögen, lange Strecken sowieso, aber ein Selbstläufer sind Etappenläufe nicht, speziell wenn die ersten Wehwehchen zu realem Aua werden. Aber: Wenn der Kopf will, geht fast alles (auch wenn es – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht immer läuft wie gewünscht) .
- den ganzen Tag in der Natur unterwegs zu sein, wunderschöne Landschaften zu sehen, vorbei an blühenden Wiesen zu laufen und die Luft in einem frisch durchgeregneten Wald riechen.
- zu erleben, wie man nach einigen Tagen wieder sehr dankbar wird für Kleinigkeiten (leckeres Essen, wenn man abends so richtig Kohldampf hat, kaltes Wasser über geschwollene Füße brausen zu können, nette Gesten, die einem zuteil werden, und vieles mehr).
- den Tag mit tollen Menschen zu verbringen, die einen alle dabei unterstützen, das Ziel zu erreichen – ob als motivierender Mitläufer, als liebevolle VP-Betreuer (die VPs waren wirklich immer tägliche Highlights) oder als souveräne Rennleitung, die den ganzen Lauf durch penible Vorbereitung überhaupt erst möglich gemacht hat, und die zudem durch ganz viel „Bedarfsanpassungen vor Ort“ (sei es erforderliche Streckenänderungen oder die Anpassung von Startzeiten) dafür gesorgt hat, dass trotz aller auftretender Probleme alles reibungslos lief.
- Ich bin die komplette Woche danach abends noch sehr früh müde (ungewöhnlich für mich) und könnte ständig um 21 Uhr ins Bett gehen. An fehlender Energiezufuhr kann das nicht liegen, denn ich kann auch die ganze Zeit futtern. Die Frage ist nur, mit welcher Berechtigung, denn meine Gewichtsdifferenz im Vergleich zum Beginn des Etappenlaufs liegt bei genau 100 Gramm (plus!).
- Eine wichtige, aber auch etwas erschreckende Feststellung ist (nicht ganz neu, aber nach dem Etappenlauf wieder sehr intensiv präsent): Der Mensch ist dafür gemacht, mit einem freundlich gesinnten Rudel bewegungsreiche Tage in der Natur zu verbringen. Nicht dafür, den Großteil des Tages einsam vor einem Bildschirm zu sitzen. In dieser Etappenlaufwoche ist der Schlaf tiefer, das Lachen häufiger und die Gespräche intensiver als in jeder durchschnittlichen Bürowoche. Was braucht es also zum Glück? Wenig, aber wohl nicht das, womit die meisten von uns den größten Teil des Tages verbringen. Die Herausforderung wird sein, mir dies bewusst zu halten, wenn der Alltag mich wieder in seinen Klauen hat.
Text: Sonja Schmitt
Fotos: Nina Blisse, Andreas Jackisch, Franz Kuhnlein, Antje Matthiesen, Ralf Methling, Sonja Schmitt
PS: Und einfach noch ein paar Fotos…