100 Meilen sind eine lange Strecke. „Veranschaulichen lässt sich diese Distanz wunderbar anhand des Berliner Mauerweges, der fast genauso lang ist“, schreibt LGM-Läufer Matthias (Matze) Weiser in seinem Text über die 24-Stunden DUV-Challenge Anfang Oktober in Bernau. Abkürzen kann man da nicht – das gilt genauso für seinen Bericht, der die 100 Meilen textlich abbildet. Auf zum Start!

„In Läuferkreisen gibt es einige markante Laufdistanzen 50, 100 Kilometer oder eben 100 Meilen. Sehr populär ist letztere in den USA, wo irgendwo gefühlt jede Woche eine Laufveranstaltung dieser Kategorie veranstaltet wird. Umgerechnet sind es 160,934 Kilometer. Ich werde der Einfachheit halber im folgenden synonym 161 Kilometer oder 100 Meilen verwenden.

Mein erster Berührungspunkt war kein Besuch über den großen Teich, sondern die Begegnung mit der „Langstreckenlauf-Gemeinschaft Mauerweg Berlin“ besser bekannt als LG Mauerweg Berlin (LGM). Bei dieser bin ich seit sechs Jahren Vereinsmitglied und sie ist Veranstalter der „100MEILENBERLIN – DER MAUERWEGLAUF“. Seit November 2014 trage auch ein wenig stolz das T-Shirt mit der Aufschrift „Niemand hat die Absicht 100°Meilen zu laufen“ bei jedem Wettkampf und werde nicht selten auf das Event angesprochen und ob ich diese Distanz schon gelaufen sei. Es gibt einerseits die Möglichkeit, als Einzelstarter die unglaubliche Distanz von 161 Kilometern in 30 Stunden zu bestreiten oder andererseits als Staffelteilnehmer ein Teilstück davon. Irgendwie wollte ich dabei sein, da ich in kurzer Zeit aus Erzählungen einiges über Flair, Veranstaltungsdurchführung und Emotionen mitbekommen hatte.

Von 2015 bis 2019 erlebte ich fünf erfahrungsreiche und aufregende Teilnahmen als Staffelläufer, auf die ich immer wieder gerne zurückblicke. Bei meinem Debüt war ich Startläufer einer Vierstaffel und bekam den Start der Einzelläufer eine Stunde vorher ausgiebig mit sowie das Kribbeln für ein Team die ersten 34 Kilometer nach Hennigsdorf zu laufen. Es folgte im Jahr darauf ein Kurzeinsatz in einer sehr schnellen 10-Plus-Staffel mit einem Herzschlag-Finale um den Sieg. 2017 durfte ich den Schlussteil über knapp 60°Kilometer einer Viererstaffel von aus nachts Teltow laufen. Die längste Zeit auf dem Berliner Mauerweg verbrachte ich im Folgejahr als Lauf-Duo während der 91°Kilometer, bevor ich Chrissi Radatz auf die Strecke schickte. Was uns 2016 noch verwehrt blieb, war der Sieg als „Lauftreff Fast Forward“. 2019 gelang dies gekrönt sogar mit dem Streckenrekord.

Jemand hat die Absicht…
Schon kurze Zeit später stellte ich mir eine Frage: Wie möchte ich die „100MEILENBERLIN“ 2020 erleben nach diesen Eindrücken – und ganz ehrlich, ich bin auch Sportler nach diesem Resultat? Meine Antwort lautete: Einer-Staffel! Das klingt nicht so anstrengend wie 100 Meilen oder sogar 161 Kilometer. Außerdem passte dieser Entschluss aus einem weiteren Grund ganz gut: 2020 wird Matze 40 (Jahre) und läuft 100 (Meilen).

Das Ziel war fokussiert und mit der Anmeldung am 9.November finalisiert. Neun Monate hatte ich von da an Zeit, mein Training zu planen und Meilensteine zu definieren. Einen groben Plan A habe ich mir mit LGM-Trainer Harald Reiff abgestimmt, der das Schema zwei oder drei Gipfel-Wochen gefolgt von einer Regenerations-Woche beinhaltete. Die langen Läufe jenseits der 50 Kilometer deckte ich mit den Ultra-Wettkämpfen von Rodgau und der Seen-Umrundung beim Fisherman-Trail ab. Man kann, muss diese schließlich nicht allein gestalten und gute Versorgung wird auch geboten. Ja so war der Plan bis Mitte August. Ich bin mir sicher, für viele Läufer ist wie für mich auch Anfang März eine Welt zusammengebrochen und an alle Pläne waren obsolet. Erstens waren die anstehenden Wettkämpfe weg, auf die das bisherige Training ausgerichtet war. Zweitens fehlten die Ziele, auf die es sich lohnen würde, hinzutrainieren bzw. der Zeitpunkt für ein Alternativ-Event. Drittens brach scheinbar die Möglichkeit weg, überhaupt noch gemeinsam zu trainieren, ob bei Lauftreffs oder privat organisiert.

Für mich persönlich ist es äußerst wichtig ein Ziel sowie dafür einen Plan zu haben, wie ich dieses erreichen kann. Plan A war in der bisherigen Form nicht mehr zu realisieren. Mein B-Plan wandelte ich dahin gehend ab, die langen Läufe für März bis Mai einfach zu zweit in Berlin zu laufen mit Selbstversorgung und/oder durch meine Fahrradbegleitung Bine. So wollte ich das „Nichts“ aus dem Film „Die unendliche Geschichte“, was 2020 Covid-19 heißt, temporär überleben. Es nahm mir und anderen den Schweriner Seentrail, den Spreewald-Marathon und den Rennsteiglauf. Die Absagen kamen manchmal frühzeitig oder spontan. Immer waren es doch Nackenschläge, auch wenn natürlich das Verständnis am Ende überwiegt. Zuerst ist es wohl menschlich nachvollziehbar, dass Teilnehmer enttäuscht über Absagen sind. Meine Hoffnung bestand damals darin, dass es wohl doch im August anders sein und bis dahin auch Konzepte geben wird, Veranstaltungen durchzuführen.

Diese starb am 23.April mit der Absage des Mauerweglaufs. Der Haken saß bei mir persönlich sehr tief, gerade weil es so frühzeitig und völlig unerwartet kam. Monatelang war alles auf Mitte August ausgerichtet, alles umsonst? Mein Ziel war weg verbunden mit einer schlagartigen Orientlosigkeit. Diese Stockstarre hielt ein paar Tage. Sie ließ sich nur mit neuen Zielstellungen mindern, sonst hätte sie mich bestimmt längerfristig beeinträchtigt. Den Rennsteig-Supermarathon virtuell auf dem Berliner Mauerweg mit anderen Anfang Mai zu schaffen ist doch ein beachtliches Ziel. Die Realisierung gelang und der Aufenthalt für zwölf Stunden auf dem Mauerweg in der Gemeinschaft wird mir lange in Erinnerung bleiben. Meinen angepassten Jahresplan wollte ich nun weiterverfolgen, der nur noch auf kein reales Wettkampfziel ausgerichtet war.

Wann ist ein 100er möglich?
Wann würden Wettkämpfe wieder durchgeführt werden können, fragte ich mich immer wieder. Die Absage meiner „Generalprobe“ – die 24Stunden in Delmenhorst – für die 100 Meilen folgte Anfang Juni, so dass auf ein schnell nahendes Ende der Wettkampfpause nicht zu hoffen war. Mit der überraschenden Durchführung und meiner Teilnahme am 6-Stunden-Event in Hoyerswerda münzte ich zumindest mein weiterhin durchgeführtes Training in etwas Zählbares um. So bekam ich auch etwas überraschend nicht nur in Hoyerswerda Unterstützung von Volkmar Scholz, sondern es entstand daraus eine Zusammenarbeit bezogen auf meine zukünftige Trainingsgestaltung.

Auch die Zahl 100 rückte wieder in meinen Fokus. Mit dem Auenseelauf in Leipzig nahm ich die Distanz von 100 Kilometer am 22.August ins Visier. Mit dem Mauerweg-Nachtlauf und weiteren mittlerweile wieder organisierten Läufen hatte einerseits gute Trainingsmöglichkeiten und andererseits auch wieder Kontakt zur Laufgemeinschaft. Durch diese erfuhr ich schon frühzeitig von dem neu aus der Taufe gehobenem Wettkampf „DUV-Challenge 2020 im 24-h-Lauf“ im Oktober. Das war das finale Zeichen 2020 doch noch mein Vorhaben in Angriff nehmen und sogar umzusetzen zu können. Aber in 24 Stunden statt beim Mauerweglauf in 30 Stunden? Die sofortige Anmeldung war für mich nur Formsache und der 100km-Lauf bekam als „Generalprobe“ eine tragende Bedeutung für das neue Saisonziel. Ich war so froh über diese Möglichkeit, dass meine Motivation für die Vorbereitung keine Grenzen kannte.

Mein Vorhaben die zehn 10km-Runden in der Messestadt in unter zwölf Stunden zu absolvieren gelang mir überraschend gut. Die ersten 70 Kilometer bin ich deutlich schneller als in meinem Trainingstempo von 7:00min/km gelaufen, weil es sich körperlich einfach gut anfüllte und die Wetterbedingungen es zuließen. Gerade die letzten 20 Kilometer lehrten mich noch einiges über meinen Körper, trübten meine leise Hoffnung auf ein gutes Ergebnis in Bernau anderthalb Monate später keineswegs. Im Gegenteil. Ich wusste, welche Nahrung mir bekommt, wann Pausen wichtig sind, das Musik eine gute Unterstützung für mich ist usw. Ich war bereit, mich der Herausforderung zu stellen, in 24 Stunden die Distanz des Mauerweglaufs zu schaffen.

Die richtigen Vorbereitungen treffen
Aber nicht allein, sondern mit vielen Unterstützern. Zuerst nenne ich meine Freundin Bine, die mir an der Strecke als persönliche Helferin zur Seite stehen wollte, nachdem sie selbst beim ebenfalls ausgetragenen Sechs-Stunden-Lauf ihr Ultramarathon-Debüt geben würde. Vor Ort würde von meinem Verein der LG Mauerweg einiges zu erwarten sein. Erstens wird ein eigener Versorgungsstand samt Helfern organisiert und zweitens rechnete ich mit knapp 30 Teilnehmern in allen angebotenen Disziplinen.

Außerdem hatte ich weiterhin eine abgestimmte Trainingsvorbereitung mit Volkmar. Mehr geht doch wohl nicht als optimale Vorbereitung, oder? Doch! In der Woche vor dem Wettkampf in drei Nächten bis zu zwei Stunden von 1 bis 3 Uhr wach bleiben. Das bedeutete Wecker stellen und die Zeit sinnvoll nutzen. Einmal war ich aus Termingründen sogar in dieser Zeit nachts laufen. In den beiden Nächten vor dem Wettkampf funktionierte es mit dem Einschlafen wunderbar. Jetzt konnte es nur noch an fehlender Ausrüstung scheitern, immerhin galt es sowohl über 24 Stunden zu kommen als auch vor und nach dem Lauf alles parat zu haben. Mütze, Handschuhe, lange Hose, Windjacke für die Nacht sowie Wechselschuhe bei Regen kamen mit in die Tasche genauso wie Salben, Vaseline, Riegel sowie koffeinhaltige Gels und Getränke.

Bereits am frühen Freitagabend reiste ich mit Bine und Swantje nach Bernau, die ebenfalls über sechs Stunden an den Start ging. Nach kurzem Hotel-checkin nutzen wir den Bus, um uns in den nördlichsten Teil Bernau zu begeben. Der Austragungsort war das Gelände des Bildungszentrum Barnims im Ortsteil Waldfrieden. Trotz einsetzender Dunkelheit konnten wir uns ein Bild von der Strecke und den örtlichen Begebenheiten machen und trafen auf die fleißigen des Ausrichters Bernauer Lauffreunde rund um Jörg Stutzke, die mit letzten Aufbauten beschäftigt waren.

Es handelte sich um 1,844km-lange Runde über den Campus auf Asphalt ausgenommen die abschließenden knapp 400Meter auf der Tartanbahn. Rund um die Laufbahn wurden nicht nur die zahlreichen Pavillons für die Verpflegungsstände aufgestellt, sondern auch der WC- und Duschcontainer. Ich war sehr angetan über den großartigen Rahmen für mein Saison-Highlight. Ein Besuch bei einem griechischen Restaurant in der Innenstadt Bernaus beendete die Einstimmung und ermöglichte eine geruhsame Nacht, denn es blieben keine Fragen keine mehr offen – außer einer: schaffe ich mein Ziel?

Gut ausgeruht, präpariert und mit Frühstück im Bauch nutzten wir das vom Veranstalter organisierte Shuttle zum Wettkampfgelände. Anderthalb Stunden vor dem Start war noch wenig los auf dem Gelände, das mit Absperrungen und aufgebauter Zeitnahme trotzdem Wettkampf-Esprit bei mir aufkommen ließ. Swantje, Bine und mir wurde als Laufbasis der Pavillon in der Kurve kurz vor der Zielgeraden zugewiesen. Dort deponierten wir unsere Selbstverpflegung auf dem Tisch plus einen Topf selbstgekochter Kartoffeln. Getränke, Obst, Gemüse, Kuchen und Cracker wurden vom Veranstalter zur Verfügung gestellt plus zwei Helfer namentlich Steffen und Katrin, die für insgesamt 12 Läufer zuständig waren.

Ich hatte mich vorab bewusst entschieden, nicht direkt am LGM-Stand untergebracht zu werden. Bei vergangenen Veranstaltungen waren manchmal viele Läufer gleichzeitig vor dem Stand, worin ich mich in meiner Organisation und Bedürfnissen etwas eingeschränkt fühlte. Ich steuerte etwas zum Büffet bei und war später auch gerne gesehen als Läufer. Nach dem obligatorischen Gruppenfoto ging es zum Start etwas außerhalb des Sportplatzes. Ich war die Ruhe selbst äußerlich im Gegensatz zu Bine. Wir starteten in entgegengesetzter Richtung zueinander, damit für die einzelnen Distanzen über 6h und 24h bzw. 100km die Split-Zeiten bzw. die genaue Distanz zurückgelegt werden konnte.

Die ersten sechs Stunden gemeinsam
Punkt zehn ertönte der Startschuss für über 150 Teilnehmer. Ich war schnell am Ende des Feldes mit meinem geplanten 7:30min/km für die ersten drei Stunden. Bine wartete auf mich am Verpflegungsstand (VP), damit wir diese gemeinsam absolvieren konnten. Es lief sich ausgezeichnet bei etwas Wind und viel Sonnenschein. Wie geplant, legte ich anschließend am VP der LGM ein 10-Minuten-Stopp ein, um mich zu erholen und ausgiebig zu essen. Vorher hatte ich alle drei Runden etwas am eigenen VP getrunken, ein Gel-Shot und/oder eine gesalzene Kartoffel zu mir genommen. Etwas langsamer machte ich mich auf den zwei Drei-Stunden-Abschnitt, der mit 8:00min/km geplant war. Der Rundkurs offenbarte nach zweihundert Metern eine erste Steigerung, gefolgt von einer flachen Passage. Diese Abfolge wiederholte sich noch zweimal bis zur 800m-Marke, bevor es bis zum Ziel nicht mehr bergauf ging.

Es lief sich weiterhin einfach weg immer wieder verbunden mit Begegnungen entgegenlaufender bekannter Läufer. Auch die Ultradebütantinnen Bine und Swantje kamen mir immer laufend entgegen. Auf Swantje bin ich irgendwann aufgelaufen, um sie bis zu ihrem ersten Marathon zu begleiten. Nach 5:16 Stunden hatte sie ihr Ziel erreicht. Bei Bine sah es nach gut vier Stunden schon nicht mehr so flüssig aus, so dass meine Anfeuerungen energischer wurden. Ihr Lauftempo von mittlerweile 8min/km und langsamer (habe ich im Nachhinein aus den protokollierten Rundenzeiten entnommen) gefährdete etwas unser Ziel von 45 Kilometern. Ich ließ Swantje allein weiterlaufen, um gleichzeitig Bine näher kommen zu lassen. Das mündete bei mir zwangsläufig ins Gehen. Die letzte Stunde konnte ich meine Liebste dann so verpflegungstechnisch unterstützen können, dass sie nicht mehr am VP anhalten musste und tempotechnisch wieder zulegen konnte. Anke und Steffi an der Strecke sowie einige Bekannte auf der Strecke pushten sie vermutlich zusätzlich. Ich hatte schon vor Wochen heimlich Bines Eltern eingeladen, die wiederum noch Bine beste Freundin überraschend mobilisieren konnten. Für die erfolgreiche erste Mission hatte ich alles getan. Als das Schlusssignal für die 6h-Läufer ertönte kam Swantje uns direkt entgegen. Wenn das kein harmonischer Abschluss für die beiden waren, die nun offiziell einen Ultramarathon zu Buche stehen haben. Herzlichen Glückwunsch Bine zu 45,388 und Swantje zu 46,13 Kilometern.

Mein zweiter Nachtlauf des Jahres
Ich wäre gern mit stehen blieben, um die Freude mit beiden zu teilen. Für mich begann jedoch das Rennen langsam. Mit 46 Kilometer lag ich auf gutem Kurs und ich beging wie geplant meine weitere 10-Minuten-Erholungspause nach drei weiteren Stunden. Ich war voll im Soll, was ich geplant hatte. Bine richtete vor ihrer Rückfahrtfahrt zum Hotel noch meinen Nachtstuhl mit Wechselklamotten usw. her. Ich nutzte jedoch ihre Anwesenheit mir beim schnellen Wechsel in die lange Hose zu helfen. Bereits um 17:30 Uhr war ich so für die Nacht vorbereitet. Ab spätestens 3 Uhr würde ich wieder auf Bines persönliche Unterstützung hoffen können. Ab 18 Uhr war die Nutzung von Kopfhören erlaubt, da die schnellen 100-km-Läufer nach knapp acht Stunden das Ziel erreicht hatten. Für mich begann damit der 90er-Rave auf die Ohren, der mein Laufrhythmus einmal mehr unterstützte und ich mein Wunschtempo weiterhin aufrechterhalten konnte.

Zwei Stunden später, nach zehn Stunden Laufzeit und der Rennsteig-Supermarathon-Distanz in den Beinen stand mittlerweile in der Dunkelheit meine Physiotherapeutin Sabine Kröger an der Strecke. Sie hat mich vor zwei Jahren nach meinem Bandscheibenvorfall mit viel Geduld und den richtigen Worten wieder auf den Weg gebracht. Aus Therapeutensicht und aus privatem Interesse ist sie aus Berlin gekommen. Ich war selig, da sie mir außerdem die beanspruchten Beine mit einem Öl versorgte. Eine nicht geplante und wohltuende Unterstützung, die mich nach 14:12 Stunden die 100 Kilometer erreichen ließ. Erstmals rechnete ich nun nach, wie ich mein weiteres Durchschnittstempo (Pace) für die restlichen 61 Kilometer gestalten musste, um in 9:48 Stunden mit 100 Meilen gesegnet zu sein. 588 Minuten geteilt durch 61 ergaben 9:38min/km.

Die Stunde der Impulse
Das war doch realistisch zu schaffen, aber gleichzeitig wurde bei mir ein Stecker gezogen. Gegen halb eins war ich kurz davor, nur noch gehen zu wollen. Der Effekt des Öls war verflogen, gelaufen bin ich bis dahin häufig allein, denn es hatten sich keine temporären Lauftandems mit anderen ergeben und die Müdigkeit verteilte sich langsam in meinen Körper. Die Gründe für meine ersten Tränen waren wohl vielfältig. Vielleicht verhalf mir eine Pause mit Beine hochlagern am LGM-Stand zu einem Schub. Beim Wiederaufstehen nach ein paar Minuten merkte ich nichts, lief stattdessen meinem Freund Steffen Sens in die Arme. Er lud mich auf eine gemeinsame Gehrunde ein, die ich dankbar mit ihm absolvierte. Diese nutzte ich zunächst, um mit Julia Jezek zu telefonieren, die leider doch verhindert war, nach Bernau zu fahren. Eine bleibende Aussage blieb bei mir hängen: „Du bist doch da nicht umsonst hingefahren! Lauf gefälligst weiter, dann schaffst du die 100 Meilen!“. Steffen erkannte etwas später: „Du hast den Spaß am Laufen verloren. Den musst du zurückerlangen.“Am Ende der Runde ging es mir mental schon besser. Die überreichten Gels waren wohl ein weiterer Impuls, der mich auf Besserung hoffen ließ. Nach ein paar Metern kam ich wieder ins Laufen nicht ohne mein Rest-Pace nachzurechnen, der sich durch die Unterbrechung sich auf 9:12 verschnellert hat.

Eine Stunde lief ich weiter für mich, bis um 1:45 Uhr ein Taxi an der Strecke eintraf. Ich wagte erst nicht zu hoffen, aber als ich an der Wendeschleife wiederankam stand dort tatsächlich mein Binchen. Dieses überwältigende Glücksgefühl ließ mich erneut weinen und gab mir ein kurzen Push über zwei Runden. Alle zwei Runden wurde ich nun direkt von Bine umsorgt. Meinem notwendigen Tempo lief ich weiterhin hinterher, nicht ohne Gedanken, später würde ich das nach aufholen können. Bei einer sitzender VP-Pause am LGM-Stand gingen mir die Worte vom erfahrenen Ultraläufer Mike Hausdorf runter wie Öl „Ich bin so stolz auf dich, wie du heute läufst.“ Meine Antwort „und ich erst“ kam hoffentlich glaubhaft rüber. Wie giftiger Nebel verbreitete sich der Gedanke, ,das reicht heute nicht – am Ende wird eine Kilometerzahl von 150 herauskommen‘. Anfeuerungen durch Bine sowie Energy-Drink, Cola, Gel-Shots drängte diesen immer wieder etwas zurück. Ich lief einfach weiter.

Zweifel und Motivationen
Für den restlichen Marathon hatte ich noch sechs Stunden Zeit. Bine massierte die Beine bei Pausen und Küsse sind als Aufmunterungen auch nicht zu unterschätzen. Sie war so aufmerksam. Als ich gegen sechs Uhr den VP passierte und nichts haben wollte, hielt sie mir die Regenjacke entgegen. Die Tropfen hat ich gar registriert. Vorsorglich zog ich sie über und war für die viertelstündige Regenphase gerüstet. Ich blieb trocken, fror nicht und musste auch kein Shirt wechseln. Die Betreuung war perfekt genauso wie die Unterstützung auf der Strecke durch Valerio Lorrai und Steffen Sens sowie insbesondere von Dorothee Serries, die mich in ihren 12 Stunden auf der Strecke gefühlt bei jedem Überholvorgang mit einen Daumen-Hoch zu motivieren versuchte. Aus dieser Phase muss auch der Zuruf von Valerio stammen: „Na klar schaffst du dein Ziel, du hast dafür trainiert und du hast es dir vorgenommen. Wer wenn nicht du schaffst das!“ 200 Minuten vor Schluss war auf einmal ein Tempo von 8:00min/km für die Restdistanz von 25 Kilometern notwendig und ich watete wartend auf die Dämmerung, auf die ich meine Hoffnung gesetzt hatte. Gegen halb acht begann diese, aber ich konnte ich nichts zusetzen. Wenn ich mich recht entsinne wankte sich sogar auf Laufbahn und nahm Bine nur noch ansatzweise war. Über die Ziellinie ging ich weinend mit dem Bild vor Augen, dass die 161 nun endgültig erlosch. „In den Schmerz reinlaufen“ wie es mir Norbert Möhr zugerufen hatte, wollte ich, fühlte mich aber nicht dazu in der Lage. Wie bei dem zu Beginn erwähnten Film schien sich alles aufzulösen, ohne dass ich etwas entgegenzusetzen hatte.

Ich dachte an meine Sonnenbrille, die ich noch nicht trug, und allen die positiv gestimmten Menschen, die an mich glaubten und mich unterstützten. „Matze, wann legst du los, wann stellst du dich der Situation, alles aus dir herauszuholen?“ Das alles legte ich mir auf der Runde zurecht. Während bei der „Unendlichen Geschichte“ das „Mondenkind“ für das Ende der Zerstörung und gleichzeitig für den Neubeginn stand, half mir der Gedanke an bisherigen meinen Einsatz seit Dezember 2019, um bis hierhin zu laufen sowie der Glaube von vielen Anwesenden vor Ort an meine Fähigkeiten. Ihnen und mir wollte ich bis es zuletzt beweisen. Steffen Bruntsch hat es später sehr treffend ausgedrückt: „Solange es nicht völlig aussichtslos ist, wird es weiterverfolgt.“

Das letzte Aufbäumen
Wie ausgewechselt kehrte ich zum Sportplatz zurück, fragte die etwas verdutzte Bine nach meiner Brille und nahm die Herausforderung an. In den nächsten 120 Minuten wollte nur noch laufen, und zwar mit einer 7 auf der Tempoanzeige. Um acht Uhr hatte ich zwar schon meinen Distanzrekord von 144,6 Kilometer eingestellt, für die ich vor zwei Jahren noch 29 Stunden trotz fünf Schlafpause benötigt hatte, aber das heute zählte nichts. Frei nach Julia „Dafür bin hier nicht hergefahren!“ Was soll ich sagen? Als wenn mein Körper nur auf einen Gehirnimpuls gewartet hatte, nahm er das vorgebende Tempo an. Es war mein Tempo im LDL-Bereich von 135-144 Puls, was ich seit Juni zigfach trainiert hatte. Innerlich war ich meinem Körper dankbar, ließ mir aber äußerlich nichts anmerken, denn meine 161 Kilometer waren noch nicht erreicht. Außer auf Bine an dem VP habe ich auf nichts reagiert. Mit meiner Musik auf den Ohren war ich fokussiert darauf, das Tempo zu halten, auch wenn die Beine zunehmend schmerzten. Es war doch ein Ende Sicht, denn anders als acht Stunden nachts um zwei sind weniger als zwei Stunden bei Tageslicht doch überschaubar. Bine war mittlerweile dazu übergegangen mir die Getränke und Verpflegung laufenderweise zu reichen. Sie hat einfach alles gegeben, auch wenn ich oft gar nichts mehr aufnehmen wollte.

Jede einzelne Aufmunterung auf und neben der Strecke sog ich in mich auf. Während andere die ansteigenden Streckenabschnitte gehend bestritten, lief ich durch. Auf den Hinweis „Matze, das ist ein Berg“ konterte ich: „Ich habe eine Mission zu erfüllen.“ Nach 84 Runden und 155,32 Kilometern war ich mir um 9:08 Uhr sicher, diese Mission zu schaffen. Der Streckensprecher Stefan Bicher kommentierte jeden Rundendurchlauf damit, dass ich mein Ziel von 100 Meilen wohl schaffen würde. Beifall und Anfeuerungen auch meiner mittlerweile angereisten Mutter sowie die läuferische Begleitung von Jörn Künstner krönten diese letzte Stunde zusätzlich. Jörn hatte ich 2016 bei seinem ersten Mauerweglauf auf den letzten 34 Kilometer begleitet. Jetzt hatte ich die Ehre, dass er mich trotz Verletzung auf meinen letzten Kilometern begleitete.

Dem Ziel ganz nah
Es wurde ein emotionaler Triumph. Auf der vorletzten Runden nahm ich die Kopfhörer ab und auf der letzten die Sonnenbrille. Viele auch noch anwesenden Teilnehmer und Helfer jubelten. Um 9:53 Uhr überquerte ich letztmalig die Ziellinie schon mit Gänsehaut bei dieser Atmosphäre und der Anzeige von 160,852. Es war vollbracht, denn die restlichen Meter war nur noch Zugabe. Ich ließ es mir nicht nehmen, bis zum Schlusssignal zu laufen. Bine und Jörn hatten auch schon Bier dabei, sodass für die Überbrückung bis zur Restmetervermessung gesorgt war. Das Ergebnis war, dass ich an einem äußersten Punkt der Strecke zum Stehen kam. Bäahhm. Es war geschafft und vorbei. Mission 100 completed! Überglücklich bin ich meiner Bine um den Hals gefallen. Es ist auch immer wichtig an der richtigen Stelle bei einem Stundenlauf zum Stehen zu kommen. Hier war es idealerweise ein Podest zum Hinsetzen. Gemeinsam konnte ich meiner Liebsten und einem Freund auf das Erreichte anstoßen. Besser geht es doch nicht!

Das Zurücklaufen zum Sportplatz mit steifen Beinen neben zwischen meiner Mutter und Bine dauerte etwas länger als der Hinweg. Ich konnte mich aber mit den ersten Vereinskameraden über ihre Ergebnisse und Erlebnisse austauschen. Die Siegerehrung wurde zeitnah durchgeführt, wo mich zwei Überraschungen erwarteten. Zunächst gewann ich meine Altersklasse deutlich und bekam meine Medaille von DUV- und LGM-Präsident Olaf Ilk. Ein paar Minuten später wurde ich zusammen mit Bernd Balsen und Jörn Seelig, die sogar etwas mehr als 162 Kilometer gelaufen sind, als Team-Dritter geehrt. Die beiden Sahnehäubchen rundeten die DUV – Challenge 2020 im 24-h-Lauf gekonnt ab, die es vor drei Monaten noch gar nicht gab.

Ich hatte einen großartigen Saisonabschluss 2020 im Kreis vieler großartiger, hilfsbereiter und motivierender Menschen. Dank an Jörg Stutzke, die LG Nord Berlin sowie die Bernauer Lauffreunde für die Organisation und Durchführung der Veranstaltung. Danke an meine Helfer Steffen und Katrin am VP. Danke an Norbert Möhr, Jörn Künstner, Detlef Kley und Astrid Stern für die Betreuung am LGM-Stand vor Ort sowie Andrea und Norbert Möhr für die Organisation vorab sowie an alle anderen helfenden Händen in den Stunden von Bernau. Ich danke meinem Freund Steffen Sens für die Hilfe in größter Not mitten in der Nacht für Rat und Tat. Ich danke allen Läufern für die Aufmunterungen neben und auf der Strecke insbesondere Dorothee Serries und Steffen Sens wegen der Häufigkeit. Danke an Sabine Kröger, bei der ich immer Termine bekomme und die meinen Körper nach jeder Belastung für weitere Herausforderungen mitvorbereitet. Danke an Volkmar Scholz für das auf mich abgestimmte Training, was nun zweimal für 100er genau richtig war. Ganz besonders möchte ich Bine für Ihre Hilfsbereitschaft, Hinweise und Unterstützung seit Januar danken und für den selbstlosen Einsatz unter besonderen Bedingungen erstmals auch nachts für mich an der Strecke.

Zum Abschluss gratuliere allen Teilnehmern zu ihren Leistungen und wünsche mir persönlich, meine nächsten 100 Meilen auf dem Mauerweg laufen zu können.“

Text: Matthias Weiser
Fotos: Sabine Erstling, Steffi Geiler, Sonja Kley, Norbert Möhr, Matthias Weiser

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