Zuschauer feuern uns entlang der Strecke immer wieder an. (Foto: Alexander von Uleniecki)
Zuschauer feuern uns entlang der Strecke immer wieder an. (Foto: Alexander von Uleniecki)

So langsam, gut vier Tage nach dem ultimate human race – dem Comrades Marthon – erholen sich Geist und Muskeln, sogar die ersten Lauf-Kilometer klappen schon wieder ganz gut. Aber dort oben im Kopf steckt immer noch dieser Lauf, den man wohl auch nie mehr vergessen wird. 89,3 Kilometer von Pietermaritzburg nach Durban am Indischen Ozean. Einer der ältesten Ultramarathons überhaupt. Nach dem 1. Weltkrieg hatte ein gewissen Vic Clapham diesen Lauf ins Leben gerufen, um so an die gefallenen Soldaten zu erinnern. Hätte er sich jemals vorstellen können, dass der Comrades einmal solche Dimensionen annehmen würde? Etwa 18.000 Läufer waren in diesem Jahr aus Südafrika angemeldet, die restlichen gut 2.000 Startplätze sind den internationalen Startern vorbehalten.

In Südafrika ist dieser Lauf nach Rugby das absolute Sport-Highlight! Mir erzählte ein Läufer am Strand, dass in jeder Stadt und in jedem Dorf des Landes auf dieses Event hin trainiert wird, alles blickt auf den Comrades. Auch das südafrikanische Fernsehen berichtet natürlich live von morgens 5:30 Uhr bis zum für manche bittere Ende um 17:30 Uhr, wenn nach genau zwölf Stunden das Zeitlimit endet. Dramatische Bilder spielen sich dann im Cricket Stadium zu Durban ab, aber davon später.

Rauf und runter im jährlichen Wechsel

Vorab sollte man wissen, dass es im jährlichen Wechsel einen Down- und einen Up-Run gibt. Down bedeutet Richtung Durban, Up nach Pietermaritzburg. In der Tat geht die Strecke zur Küste hin runter, zwischen beiden Städten liegt ein Niveauunterschied von mehr als 700 Metern. Wer sich aber das Streckenprofil genauer anschaut, wird viele größere und kleinere Zacken entdecken. Erhebungen, die auch und gerade beim vermeintlich leichteren Down-Run ordentlich in die Beine gehen. Von derlei Anstrengungen kann am Start in Pietermaritzburg noch keine Rede sein, eher steht hier eine Mischung aus leichter Angespanntheit und Nervosität im Mittelpunkt.

Gestartet wird in mehreren Blöcken, je nach Qualifikationszeit. Je besser die Zeit, die man sich bei einem beliebigen (offiziellen) Marathon erlaufen hat, desto weiter vorne geht man ins Rennen. Das ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil es beim Comrades keine Netto-Zeiten gibt. Seinen Champion-Chip hat man zwar am Fuß, aber mit dem traditionellen Hahnenkrähen am Start läuft für alle Teilnehmer die Zeit. Bevor es soweit ist, herrscht in den Startblöcken für einige Augenblicke Gänsehautstimmung. Nämlich dann, wenn die Nationalhymne Südafrikas zweisprachig gesungen wird, vor allem aber zum Schluss die populäre Shosholoza. Ich kann dieses Gefühl kaum beschreiben, aber es ist wunderbar, wenn Schwarze und Weiße das Lied auf den Lippen haben, selbst wenn mancher – so wie ich – den Text gar nicht kennt. Aber mit dem Hahnenschrei um 5:30 Uhr konzentriert sich alles auf das, was nun die nächsten über 89 Kilometer einem bevorsteht: Ein Wechselbad der Emotionen und Eindrücke, ein Eintauchen in die südafrikanische Gesellschaft, ein einmaliges Lauferlebnis!

Kleiderspende der besonderen Art

Viele Läufer tragen am Start Langarm, manchmal mehrere Schichten übereinander, denn in Pietermaritzburg kann es während des südafrikanischen Winters empfindlich frisch sein. In diesem Jahr sind es angenehme 14 Grad, wobei das Thermometer später noch relativ weit nach oben klettern wird. Ein Langarmhemd trage ich unter meinem eigentlichen kurzen Lauftrikot, das ich später, so bei Km 9, ablegen werden. Genau an jenen Punkten der Strecke warten dann auch teils professionelle Klamottensammler, die die Unmengen an Textilien entweder weiter verkaufen oder gleich für ihre Familien mitnehmen. Jedenfalls lohnt es sich wirklich, Klamotten, die man nicht mehr braucht und noch gut erhalten sind, mit zum Comrades zu nehmen – eine Kleiderspende der besonderen Art.

Die ersten gut ach bis zehn Kilometer laufen wir im Dunkeln. Und – auch das ist eine Besonderheit – man ist nie allein. Selbst ganz am Ende beträgt der Abstand zum nächsten (gehenden) Läufer höchstens zehn Meter. Konzentration ist vor allem gefragt, wenn man sich die Mitte der Fahrbahnen als Laufstrecke ausgesucht hat, denn spätestens nach dem ersten Stolpern erkennt und spürt man die kleinen Reflektorkatzenaugen. Die Markierungen sind zwar nur wenige Zentimeter hoch, aber eine Unachtsamkeit endet schnell mit einem Sturz. Ist mir zwar nicht passiert, aber dafür nach dem Pinkeln im Halbdunkel. Als ich mich vom Straßenrand aus wieder in das Teilnehmerfeld einfädeln wollte, lag ich. Kleinere Schürfwunden, etwas brauner Staub auf der Haut, aber ansonsten nichts Schlimmes.

Endlose scheinende Hügel machen die Strecke zur Herausforderung

Dass der Down-Run diesen Namen eigentlich nicht verdient, spürt man zu Beginn. Keine steilen Anstiege sind das, dafür aber die um so fieseren sanften und langgezogenen Hügel. Am Anfang sehen die Beine das noch locker, später hört man das Fluchen in unterschiedlichsten Sprachen. Down-Run? Ein bitteres Lachen kann man sich in solchen Momenten nicht verkneifen. Um so schöner, dass die Verpflegungsposten beim Comrades nicht weit auseinander liegen, im Schnitt alle etwa zwei Kilometer. Das mag manchem auf den Magen schlagen, weil man unter Umständen in Versuchung gerät, zu viel zu futtern, aber letztlich ist das angesichts der rasch steigenden Temperaturen sehr angenehm und hilfreich. Woran man sich gewöhnen muss, ist der leichte Chlorgeschmacks des Wassers, dafür gibt es aber auch als Ausgleich Isogetränke und Coke, zum Schluss sogar Bananenwasser. Iso und Wasser bekommt man in kleinen Beuteln gereicht, die man mit den Zähnen aufreisst. Ein Ritual, das bei den vielen Verpflegungspunkten schnell in Fleisch und Blut übergeht. Darüber hinaus entwickelt jeder so seinen eigenenRhythmus. Bei mir sah das im letzten Drittel so aus: Zwei Beutel Wasser und einen mit Iso greifen, weil 1x Wasser als kühlende Dusche für den Körper, 1x oral und das Ganze dann mit Iso nachspülen. Zum Schluss noch ein Becher (mal kein Beutel) Coke, vielleicht noch ein Stückchen Banane. Und auf den ersten Metern nach dem Posten mindestens einen noch herumliegenden vollen Beutel mit lautem Knall zum Platzen bringen … So kann’s gehen!

Nach gut 20 Kilometern hat man den höchsten Punkt der Strecke erreicht, was einen sofort wieder an den Down-Run denken lässt. Umlaas Road, etwa 800 Meter über dem Meeresspiegel. Klar, von der Tendenz her geht es ab jetzt immer ein paar Meter nach unten, aber dafür auch immer wieder etwas nach oben, manchmal muss ich sogar gehen. Ich kenne die Strecke noch schemenhaft von meiner ersten Teilnahme vor vier Jahren. Und schon damals merkte ich schnell, dass man den Comrades nicht bis in jedes Detail planen kann, zu viel kann unterwegs passieren. Eine Faustregel gilt aber immer: Bloß nicht zu Beginn alle Körner verbrennen, weil die Temperaturen ja noch so schön angenehm sind. Der bessere Rat lautet: Zwei Drittel eher zurückhaltend laufen, dann im Schlussdrittel entscheiden, was tempomäßig noch geht. Ich hatte mir für dieses Rennen einen Schnitt von maximal sieben Minuten pro Kilometer vorgenommen, also eine Endzeit von weniger als elf Stunden. Durch die Berge unterwegs verliert man anständig Zeit, die man aber – wenn’s denn noch geht – an den Bergabpassagen wieder reinholen kann. Bei mir pendelte sich der Schnitt am Ende bei 7:06 ein, also immer noch mit etwas Polster für mein Elf-Stunden-Ziel.

Der Krüger Nationalpark ist weit entfernt

Sonnenaufgang. Inzwischen hat man die Vororte von Pietermaritzburg verlassen. Wer die Gegend hier beim Comrades mit Dschungel oder Krüger-Nationalpark verwechselt, sollte vorher die Karte studieren oder sich Fotos anschauen, um Enttäuschungen vorzubeugen. Und auch wenn man die unberührte Wildnis vergeblich sucht, so hat die Gegend dennoch ihre Reize. Wer Zeit und Muße hat, sollte ruhig sein Handy mitnehmen und das ein oder andere Foto schießen, ob von den kargen Buschlandschaft, den leicht bewaldeten Höhenzügen und zahlreichen Tälern. Allein ist man aber nie, dafür sogen nicht nur die Mitläufer, sondern auch die vielen Zuschauer. Kein müdes Klatschen empfängt einen, sondern Geschrei, Jubel und Anfeuerungsrufe, auch wenn man logischerweise nicht jedes Wort versteht. Und immer wieder – auch das ist typisch Comrades – wird private Verpflegung wie Salzkartoffeln, Sandwiches, sogar Bratwürste und Steaks, oder schlicht Salz für auf die Hand gereicht. Ein kleiner Smalltalk mit den netten Menschen, dann geht’s es weiter.

Halbzeit: Läufer verewigten sich an der Comrades Wall

Etwa bei Halbzeit erreicht man die Comrades Wall, an der sich Läufer mit Gedenksteinen haben verewigen lassen. So manch bekannten Sportler kann man entdecken, sofern nicht das Namensschildchen schon verwittert ist. Etwa fünf Stunden bin ich unterwegs, der spätere Sieger hat derweil das Ziel schon vor Augen. Wieder folgt ein Anstieg, es ist deutlich wärmer und vor allem schwüler geworden. Ein Wetter, das ich überhaupt nicht mag. Ich schwitze zu viel, mein Körper verliert zu viele Salze, die ich ihm nicht zurückgeben kann. Die Salztabletten liegen daheim in Berlin. Aber noch reichen die Kraftreserven, zumal ich an den Steigungen in ein zügiges Gehen wechsel. Das spart Energie und viel schneller sind jene, die unbedingt hoch-joggen müssen, auch nicht. Dennoch geht mein kritischer Blick immer wieder auf meine Garmin, denn zu schlecht soll mein angepeilter 7er-Schnitt auch nicht werden. Der Berg kostet Sekunden, die man dann beim Bergablaufen wieder gutmachen kann. Kann, denn mittlerweile tut auch das Runterlaufen weh, die Oberschenkel melden sich zu Wort und ächzen.

Vom Vorfußlauf in den Patscheschritt – nach wenigen Kilometern brennen die Fußballen

Beim Comrades Marathon wird die Autobahn zu Rennstrecke für Läufer. (Foto: Alexander von Uleniecki)
Beim Comrades Marathon wird die Autobahn zu Rennstrecke für Läufer. (Foto: Alexander von Uleniecki)

Kurz nach Botha’s Hill, also ca. 38 Km vor dem Ziel, kann man endlich von einem echten Down-Run sprechen. Gute 15 Km gibt es nur Gefälle, teils auf breiten Autobahnabschnitten. Ach so, hatte ich schon erwähnt, dass ich seit dem Start in Pietermaritzburg in FiveFingers laufe, diesen ulkigen Zehenschuhen? Dann hole ich das jetzt nach, denn die Schuhe gehören mit zu meiner Comrades-Geschichte! Anfangs konnte ich noch die bekannten Vorteile der FiveFingers nutzen, also viel Vorfuß laufen und damit den Fuß an sich weniger belasten. Bisher ging das auch bei Distanzen bis Marathon ganz gut. Aber irgendwann ändere ich zwangsläfig meinen Laufstil, denn auch die Fußmuskulatur wird müde. Mein Vorfußlauf geht in einen Patscheschritt über, bei dem ich mit Zweidrittel meiner Fußfläche auf dem harten Asphalt lande. Unüberhörbar und schmerzhaft vor allem für meinen linken Fußballen. Mit zunehmender Zahl gelaufener Kilometer brennt der Ballen, als wenn ich durch heiße Kohlen laufen würde. Ich bin ein wenig am verzweifeln, denn ich kann diesen Schmerz kopfmäßig nicht so einfach wegpacken, wie mir das bei anderen Schmerzen oft gut gelingt. Mein Lösungsvorschlag lautet: An jedem Verpflegungspunkt Wasser in die Schuhe kippen, damit eine gewisse Kühlung erzeugen, und hoffen, dass es dadurch irgendwie klappt. Sorge vor Blasen habe ich nicht so sehr, da ich wie fast immer im Sommer ohne Socken laufe und noch nie Probleme damit hatte. Es dauert etwa 8 Kilometer, die mir aber wie Ewigkeiten vorkommen, bis das Fußfeuer nachlässt – zumindest ist der Schmerz nicht mehr so krass.

Überraschendes Treffen mit Mauerwegläufer Simon

Nach dem langen Abwärtsstück wartet noch ein giftiger Berg, nämlich Cowie’s Hill. Klar, den gehe ich. Den muss ich gehen! 19 Kilometer noch bis ins Sahara Kingsmead Stadium von Durban. Sorgen, es nicht zu schaffen, habe ich nicht. Vom Temposchnitt her liege ich weiter auf Unter-Elf-Stunden-Kurs, aber neben den Kräften schwindet so ein wenig auch die Lauflust. Auf Autobahnen laufen ist nicht mein Ding, meldet der Kopf. Dann die Wärme, und langsam kann ich Wasser, Iso und das ganze Zeugs auch nicht mehr sehen. Alles schon mal erlebt, nix Neues – das ist beruhigend. Um schöner ist es aber, wenn von hinten einer Deinen Namen ruft, so völlig aus dem Nichts. Ich drehe mich um und sehe Simon Taylor. Simon! Du! Hier? Simon ist Südafrikaner, kommt aus Pietermaritzburg, aber es war auch die Liebe die ihn nach Berlin und später auch zu unserem Verein verschlagen hatte. Eigentlich wollte er unter neun Stunden laufen, aber den Plan kann er vergessen. Hauptsache ankommen sei sein Motto, sagt mir Simon. Nur ankommen? Da schlägt auf einmal das Herz des Motivators, auch wenn es mir selbst nicht richtig gut geht. Wir traben gemeinsam weiter. Gehpause, sage ich zu Simon, erst wieder am nächsten Verpflegungsstand! Und da die allle zwei Kilometer auftauchen, ist dieser Wechsel sehr angenehm. Galloway light in südafrikanisch-deutscher Koproduktion! Ziel ist es, ein Zeitpolster herauszulaufen, das es ermöglicht, die letzten Kilometer bis zum Schluss notfalls auch gehend zu schaffen. Zusätzlich angespornt durch seine Familie, die etwa acht Kilometer vor dem Ziel an der Strecke wartet, geht unsere Taktik auf. Wir werden es – ob gehend oder kriechend – innerhalb der zwölf Stunden packen, das ist nun quasi amtlich! In dieser Gewissheit trennen wir uns wieder, denn nun hat jeder seine persönlichen Ziele und Gedanken im Kopf. Unter elf, ich will unter elf Stunden bleiben! Kaum haben die Informationsbahnen diese alte und jetzt neu aufkommende Absichtserklärung an das Hirn geleitet, fängt der linke Fuß wieder an zu meckern. Wie auf Knopfdruck, wie ein umgelegter Schalter. Ich fluche innerlich, wechsel von Laufpassagen in ein frustriertes Gehen. Vor mir taucht einer der 11-Stunden-Busse auf, so heißen hier beim Comrades die Pacemaker. Vor vier Jahren bin ich noch locker dem Unter-10er locker gefolgt, aber diesmal geht gar nichts mehr. Fühle mich wie augelaugt, verdamme den flammenden Fußballen, meine Zehenschuhe. Selbst das nahende Stadion hebt zuächst nicht meine am Boden liegende Stimmung. Erst nachdem meine Füße, auch der gescholtene Linke, den Innenraum betreten haben, die letzten Meter vor dem Zielbogen vor mir liegen, die Zuschauer (nicht unbedingt wegen mir) jubeln, vergesse ich Füße und Leiden. Naja, ich schwebe nicht ins Ziel nach 10:42 Stunden, aber ein erleichtertes Lächeln kann ich mir dann doch nicht verkneifen, als mir die Bronzemedaille umgehängt wird. Vom Laufen will ich erst mal nichts wissen, müde sinke ich am Verpflegunstisch zu Boden. Und übrigens: Simon hat es auch geschafft, sogar ebenfalls unter elf Stunden! Das erfahre ich erst einen Tag später, aber macht mich um so glücklicher.

Zeit heilt Wunden, heißt es doch, oder? So ähnlich geht es mir in den Tagen nach dem Comrades. Auf den letzten Metern vor dem Stadion habe ich nie einen Gedanken an eine Wiederholung verloren. Nun aber ist für mich klar: Ich möchte irgendwann auch mal den Up-Run in Angriff nehmen! So wie Rose Byass, die Australierin, die ich im Ziel kennenlernen durfte. Aber das ist eine andere, schöne Comrades-Geschichte …

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