Dieser Marathon kannte kein Entweder-Oder: Für Mauerwegläuferin Sonja Schmitt hielt der Berlin-Marathon 2015 die gesamte Gefühls-Palette bereit: Optimismus und Pessimismus, Stolz und Demut, Freude und Frust.

Geht´s endlich los? Ungeduldige LGMler beim obligatorischen Vor-Start-Fototermin.
Geht´s endlich los? Ungeduldige LGMler beim obligatorischen Vor-Start-Fototermin.

„Der Morgen versprach Großes. Das Wetter: so strahlend, wie man es sich nur wünschen konnte. Der Körper: Langstrecken-trainiert durch viele länger-als-im-Marathontraining-vorgesehene-lange-Läufe mit der LGM und virenfrei trotz seit Tagen vor sich hinschniefelnder Tochter (die damit leben musste, dass ihre Mutter panisch auf die Gästematratze floh, sobald sie nachts ins elterliche Bett geschlüpft kam – sorry Pauline!). Die Laune: Erwartungsfreudig euphorisch, zumal nach dem obligatorischen Startfoto am Glockenturm mit zahlreichen ebenfalls gut gelaunten gelbbehemdeten Vereinskollegen.

G wie „Go for sub 4:15“

8.30 Uhr: Ab in den Startblock G für die Zielzeiten sub 4:15h. Die für mich magische Marke hatte ich eigentlich schon im April in Hamburg reißen wollen, war aber mit einer 4:19 gute vier Minuten dran vorbeigeschrammt. Umso mehr wollte ich es heute. Ich war sehr optimistisch, und andere waren es auch: Auf der Marathonmesse hatte mein 1:56h-Halbmarathonergebnis problemlos für einen G-Sticker gereicht.

Die Autorin mit ihren Bodyguards (hält nur bis zur Startlinie, danach laufen sie - links Jörn Künstner, rechts Matze Weiser- ihr immer davon...)
Die Autorin mit ihren Bodyguards (hält nur bis zur Startlinie, danach laufen sie – links Jörn Künstner, rechts Matze Weiser- ihr immer davon…)

Meine „Bodyguards“ Jörn und Matze, mit denen zusammen ich die großartige Stimmung im Startbereich genoss, ließ ich schon vor der Startlinie ziehen, beide aufgeregt wie junge Hunde. Jörn, weil er wissen wollte, was nach den 24-Stunden-von-Bernau vor zwei Wochen noch geht, Matze, weil er als Erstmarathontäter wissen wollte, was überhaupt geht. Da sie sub4 anpeilten, wollte ich gar nicht erst den Fehler begehen, mich in ein zu hohes Tempo reinreißen zu lassen.

Einfach Tempo halten
10.18 Uhr: Um 9:19 Uhr ging es über die Startlinie. Nach etwas zähem Anlauf die ersten zwei Kilometer fliege ich Kilometer drei bis zehn nur so dahin. Die Sonne scheint, der Jubel ist groß und eine Pace von 5:45min/km locker zu halten. Die Big Band kurz vorm Friedrichstadtpalast spielt: „Ich war noch niemals in New York“ – genau, da muss ich auch nochmal hin, zum Marathon natürlich. Der Enthusiasmus lässt mich minutenlang damit liebäugeln, die Pace noch etwas anzuziehen, mit 5:39 wäre schließlich sogar sub4 drin. Nein, mal nicht übertreiben. Auf meinem Pace-your-race-Bändchen steht eine 5:57er-Pace mit Zielzeit 4:09 – hierauf habe ich bei km10 gut eine Minute Vorsprung, es wird nach hinten raus sicher schwerer. Einfach Tempo halten.

11.25 Uhr: Einfach Tempo halten, haha. Der unbestechliche Blick auf die Uhr an der Halbmarathonmarke zeigt, was ich schon erahnte. Mein Tempo ist rückläufig, mit 2:05:50 Stunden liege ich jetzt auf Zielzeit 4:12. Ja, was soll´ s, ist mein offizielles Ziel doch nur, unter 4:15 zu kommen, ein ehrenhaftes und völlig realistisches Ziel nach den 4:19 in Hamburg, die ich mir bei Regen und Wind extrem erquält hatte. Dagegen ist das hier doch das Paradies – Sonne statt Regen und noch mehr Leute und noch viel mehr Musik… Die ist übrigens auch nötig, weil mein rechtes Knie mittlerweile ziemlich weh tut (warum eigentlich??!) und der Schmerz nur durch die Endorphinstöße beim Vorbeilaufen an den Musikkapellen vorübergehend betäubt wird. Ich versuche – vergeblich – mich abzulenken mit dem Gedanken an Dinge, die mich gerade beschäftigen: Geht die viele Lauferei auf Kosten meiner Tochter? Warum sind IT-ler nicht in der Lage, sich in normalmenschlichen Sätzen auszudrücken? Kann man sich an Austern die Zähne ausbeißen?

Ungute Gefühle unten und oben
12.20h: Kilometer 30. Die Musikkapellen haben sich gegen mich verschworen. Jede Trommelgruppe, an der ich vorbeikomme, macht Pause. An jeder Dosenmusikstation quatscht der Moderator. Der Protest von rechts unten wird größer. „Hallo Knie! Ja tut mir Leid, ist gerade nichts mit hormonellem Schmerzmittel. Gefällt mir auch nicht.“ Letztes Jahr habe ich für meine Freundin Ulrike am Streckenrand bei km33 noch eine Tanzeinlage hingelegt. Heute völlig utopisch. Zu dem unguten Gefühl von unten gesellt sich ein ebensolches von oben. Mein Buff ist völlig durchgeweicht. Selbigen hatte ich mir bei km5 unelegant über den Kopf gezogen, um das Haargewuschel im Zaum zu halten. Was vergesse ich Idiotin auch mein Zopfband. Weiß doch jeder, dass es wichtig ist, immer an Gummis zu denken.

Trümmerfrau unterwegs. Der Kommentar meiner nicht-laufenden besten Freundin, als sie das Bild sah: „Und das macht WIRKLICH Spaß?!“
Trümmerfrau unterwegs. Der Kommentar meiner nicht-laufenden besten Freundin, als sie das Bild sah: „Und das macht WIRKLICH Spaß?!“

12.53 Uhr: Kilometer 35. Die Pace liegt bei 6:29km/min. Bei km32 hab ich mir das letzte Wasser erlaubt, ich habe Angst, wenn ich jetzt nochmal dafür ausbremse, komme ich überhaupt nicht mehr in Trab. (Von Galopp kann man schon längst nicht mehr reden.) Ich bin genervt. Ich bin frustriert. Wieso kann ich seit Monaten den Mauerweglauf von 25km locker mit 6:30-er-Pace durchlaufen und schaffe es keine Marathon-Wettkampf-Pace zu halten, die zumindest 30 Sekunden darunter liegt?

Anhaltende Auto-Aggression – hilft heute nicht
Ich ärgere mich über meine zu fest geschnürten Schuhe. Ich ärgere mich über gut gemeinte Zurufe. Ich ärgere mich über Läufer, die urplötzlich vor mir in Schritt verfallen, so dass ich fast in sie reinlaufe. Über Läufer, die mich locker flockig überholen, ärgere ich mich sowieso. Eigentlich ärgere ich mich über mich selbst – weil es mir nicht gelingt, locker zu laufen. Manchmal hilft das sogar – frei nach dem Motto: letzte Reserven mobilisieren durch anhaltende Auto-Aggression. Aber nicht heute. Die Pace nähert sich grausam einer 6:50. Was hab ich nach Hamburg gejammert, dass ich „nur“ zwei Minuten besser war als in Berlin 2014. Und da hat es aus Kübeln geschüttet, es war windig und die Strecke hügelig. Und welche Ausrede habe ich hier und heute? Keine! Ich bin eine Schande für die LG Mauerweg. Losflitzen und dann einbrechen wie der letzte Laufanfänger. Von wegen Ultra, ich kann ja noch nicht mal Marathon.

Bei allem Gejammer: Der Berlin-Marathon ist einfach immer wieder toll - und das Wetter meistens auch.
Bei allem Gejammer: Der Berlin-Marathon ist einfach immer wieder toll – und das Wetter meistens auch.

13:27h: Kilometer 40. Pah! Was mache ich hier eigentlich – jammern auf hohem Niveau nennt man das wahrscheinlich. Hey, das hier ist der Berlin-Marathon! Und ich bin dabei! Und ankommen werde ich auch. Dann halt ein ganzes Stück langsamer als gedacht – na und? Es werden Tausende nach mir ankommen. Ich beschließe, die letzten Kilometer zu genießen, was mir auch gelingt, jedenfalls besser als vorher. Der Lauf durch das Brandenburger Tor ist ein emotionaler Höhepunkt, genauso wie die hunderte Restmeter bis ins Ziel, das ich um 13:41 Uhr erreiche – mit 4:21:41 und einem Lächeln für die Kamera. Trotzdem bin ich gerade sehr froh, dass es vorbei ist.

PS: Eine nachträgliche, nicht-repräsentative Umfrage unter den Vereinskollegen ergab: Vielen ging es diesmal ähnlich. Da fühle ich mich doch gleich wieder in guter Gesellschaft. Wie eigentlich immer in diesem Verein. Keep on running!

Mein Fazit zum Berlin-Marathon 2015:

– Die idealen Startvoraussetzungen bei idealem Wetter und idealer Anfangspace führen nicht zwangsläufig zur idealen Zielzeit. (Ich hege die Hoffnung, dass das auch umgekehrt gilt.)
– Mein erster Berlin-Marathon letztes Jahr lief super und hat einfach nur Spaß gemacht. Und dieses Jahr habe ich mich für schlappe sieben Sekunden weniger über weite Strecken dermaßen gequält. Irgendwas habe ich also falsch gemacht. Die Frage ist, was.
– Es ist wichtig, immer an Gummis zu denken. “

(Text: Sonja Schmitt; Fotos: Sonja Schmitt, Stephan Schillhaneck-Demke, unbekannter Gentleman am Glockenturm)