Der Nachteil von Facebook ist, dass selbst Website-Berichte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens schon völlig veraltet sind. Ihr wisst, wie die Balaton-Umrundung für die fünf teilnehmenden LGMler Jörn Künstner, Andrea Möhr, Itta Olaj, Sonja Schmitt und Alexander von Uleniecki ausgegangen ist. Ihr wisst, dass alle angekommen und mit einem Lächeln – respektive debilem Läufergrinsen – nach vier Tagen und 195 Kilometern ins Ziel gelaufen sind. Wen es trotzdem noch interessiert, wie sie dahin gekommen sind, wie sie Knieschmerzen und Cut-offs, Wut- und Ohnmachtsanfällen trotzten, wie speziell Autorin Sonja Schmitt diesen ihren ersten Etappenlauf erlebt hat, der lese diesen Bericht.

Wollen wir da wirklich ganz rumlaufen? Die LGM-Abordnung Sonja Schmitt, Jörn Künster, Andrea Möhr, Alexander von Uleniecki und Itta Olaj (von links) kurz vor dem Start.
Wollen wir da wirklich ganz rumlaufen? Die LGM-Abordnung Sonja Schmitt, Jörn Künster, Andrea Möhr, Alexander von Uleniecki und Itta Olaj (von links) kurz vor dem Start am Balaton.

Mittwoch, 16. März 2016, Anreise:
7.30 Uhr, Berlin Kaiserdamm: Zwischen uns und dem Start liegen rund 1.200 Kilometer und damit fast zwölf Stunden Autofahrt. Alex fährt und seine Berichte über seine bereits vier Balaton-Umrundungen seit 2012 sowie Ittas Eindrücke von ihrer ersten im vergangenen Jahr stimmen uns auf das Abenteuer ein. Langweilig wird es also nie, und dennoch scheint das Beste an dieser Art der Anreise: Nach so vielen Stunden Zwangssitzen im Auto ist die Aussicht, an den kommenden Tagen richtig viel laufen zu dürfen, wirklich verlockend.

20.30 Uhr, Siófok, im Hotel:
Wir plündern das Buffet. „Das Wichtigste ist, immer viel zu essen“, hatte mir Itta gepredigt, die jetzt nur an ein paar Nudeln pur herumnagt. Daran würde der Lauf aus meiner Sicht wohl nicht scheitern, eher an ungenügender Vorbereitung. Klar, mit Rodgau, dem Ludwig-Leichhard-Trail und dem Lindow XXL hatte ich ein paar kleine Ultras (beim Korrekturlesen festgestellt: „kleine Ultras“ ist auch eine super Wortkombi, alles ist eben relativ…) aus den Vorwochen in den Beinen, allerdings nur zweimal am kommenden Tag 20 Kilometer für einen Doppeldecker draufgesetzt. Ob das reicht?

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Allgemein aufgeregtes Gewusel vor dem Start in Siófok.

Ich bin völlig hin- und hergerissen. Eigentlich bin ich ganz optimistisch, muss allerdings zugeben, dass der Anblick der dutzenden erfahrenen Ultraläufer an den Nebentischen mit einem gefühlten BMI von 15 dazu führt, dass ich mich mehr als vollgefutterte Vierzigjährige wahrnehme denn als dynamische Ultragazelle. So vermutlich fühlt sich ein übergewichtiger Walker zwischen lauter drahtigen Marathonläufern…

Meine größte Angst: Mich abzuquälen, während die anderen vier jede Etappe locker wegstecken, und spätestens an Tag drei völlig abzuloosen. Und: Als einzige ohne Finisher-Medaille wieder nach Berlin zu müssen. Ja, ich weiß, auch für Jörn ist es der erste Etappenlauf, aber ich kann ihn mit seinem 24-Stunden-Bernau-Erfolg und verschiedenen 100-ern im Vorjahr anders als mich als Anfänger nicht wirklich ernst nehmen.

Donnerstag, 17. März 2016:
1. Etappe: Siófok – Fonyód – 48,2 km
Wie auch immer: Jetzt sind wir hier, jetzt wird gelaufen und wir werden sehen, wie weit wir kommen. Das wichtigste Ziel für mich: Ankommen, und daher – wichtig – auf die Cut-offs an den Zwischenstationen achten. Denn wie wir mehrfach gehört haben, nehmen die Ungarn rigoros raus.

Der Ausblick auf den Plattensee ist auf der ersten Etappe streckenweise einfach grandios - und das passende Wetter gibt es heuer dazu.
Der Ausblick auf den Plattensee ist auf der ersten Etappe streckenweise einfach grandios – und das passende Wetter gibt es heuer dazu.

Das Wetter ist der Knaller: Zehn Grad, kaum Wind, der Balaton glitzert in der Sonne. Der Start direkt am Wasser sorgt für Gänsehaut. Schnell noch die obligatorischen Startfotos in Gelb gemacht, dann fällt um viertel vor elf der Startschuss. Alex und Itta wollen gemeinsam laufen, die zweite Gruppe bilden Jörn, Andrea und ich. Wir drei wollen so laufen, dass wir genug Puffer auf die Cut-offs haben, ansonsten aber nicht schneller sind als nötig. Denn vier Tage sind lang…

Der erste Cut-off des heutigen Tages fällt bei km 15,8 – brutto (also inklusive VPs und Pinkelpausen) müssen wir dafür eine Pace von 7:00 halten. Wir peilen ein Lauftempo von maximal 6:30 an. Das funktioniert gut, zahlreiche Fotos sind drin, zum Glück, denn die Ausblicke mit dem See im Hintergrund sind einfach grandios. Ein Spaziergänger fragt, ob er uns alle drei zusammen aufnehmen soll – sehr gerne – und wünscht uns danach „Gute Fahrt!“.

Entspannt dahintraben - (noch) gar kein Problem...
Entspannt dahintraben – (noch) gar kein Problem…

Der Lauf ist völlig problemlos, wir haben diverse Minuten Puffer auf die Cut-offs – am Anfang wenige, doch es werden immer mehr. Uns geht es super, die Gefahr liegt darin, unnötig schnell zu laufen und so Kraft zu verpulvern, die für die nächsten Tage zumindest von mir noch dringend gebraucht wird. Zwar versichern wir uns gegenseitig immer wieder, dass wir möglichst entspannt laufen wollen (und für die Cut-offs braucht es im 2. Abschnitt nur noch 7:30er Pace und ab km 31,9 sogar nur noch 8:00er Pace), wesentlich langsamer werden wir aber nicht.

Im Gegenteil: Auf den letzten fünf Kilometern findet Andrea Gefallen daran, zahlreiche andere Läufer einzusammeln und zieht das Tempo noch etwas an. Jörn zieht problemlos mit und hat auch noch Spaß dabei. Ich dagegen überhaupt nicht, weil ich befürchte, dass ich gerade die Kraft verschwende, die mir an einem der nächsten Tage fehlt, während die anderen beiden es gut verarbeiten. Trotzdem hetze ich irgendwie hinterher, weil wir ja auch gemeinsam ins Ziel laufen wollten. Machen wir auch, mehr oder weniger, und es hätte so schön sein können: Der Sprecher empfängt uns mit großem Hallo und persönlich mit Namen, was sich mit ungarischem Akzent total niedlich anhört.

Nicht jeder Zielbogen war das Ziel: Auch auf den beiden Cut-Offs auf der Strecke erwartete die Läufer ein Zieleinlauf. Angemessen, immerhin mussten hier bestimmte Cut-off-Zeiten erreicht werden.
Nicht jeder Zielbogen war das Ziel: Auch bei zwei VPS auf der Strecke, jeweils nach etwa dem ersten beziehungsweise zweiten Drittel der Tagesetappe, erwartete die Läufer ein Zieleinlauf. Angemessen, immerhin mussten hier bestimmte Cut-off-Zeiten erreicht werden.

Ich kann es aber nach dem Vorlauf überhaupt nicht genießen und bin dermaßen angebratzt, dass ich hinter der Ziellinie erstmal ne Runde heule – und zwar nicht vor Freude. Eher vor Wut: Weil Jörn und Andrea anders als abgesprochen auf den letzten Kilometer die Tempo so angezogen haben, aber noch mehr auf mich, weil ich hinterhergerannt bin. Hat mich ja schließlich niemand zu gezwungen. Eigenverantwortung und so… Mann, ich blöde Kuh! Was ist, wenn mich genau das jetzt an einem der nächsten Tage den Cut-off kostet??!

Aber lange aufregen bringt nichts, es ist wie es ist, und wie der nächste Tag läuft, wird sich zeigen. Mit dem Bus geht es zum Hotel, duschen, und dann zum Abendessen, wo wir auf Alex und Itta treffen. Wie sich rausstellt, sind die beiden nur kurz vor uns im Ziel angekommen. Alex sieht noch verheulter aus als ich, weil er auf den letzten 38 Kilometern der insgesamt 48 Kilometer langen Strecke so heftige Knieschmerzen hatte, dass er sicher ausgestiegen wäre, hätte er nicht unbedingt diesen seinen 5. Balaton bezwingen und sich nicht gleich am ersten Tag diese Chance nehmen lassen wollen. Er tut mir total leid, sein mieser Zustand hilft mir aber komischerweise extrem, die nächsten Tage gelassener zu sehen. Denn was immer ab nun auch passiert: Es würde in jedem Fall NICHT so sein, dass alle anderen vier den Etappenlauf locker durchstehen und nur ich Ultra-Baby mich damit rumquäle. Das mochte ich ihm an dem Abend natürlich nicht sagen, hab ich auch immer noch nicht, aber hiermit: Danke, Alex, ich weiß, es war richtig schlimm für dich, aber immerhin war es für etwas gut ;-).

Freitag, 19. März 2016:
2. Etappe: Fonyód – Szigliget – 52,9km
Der zweite Tag steht zunächst unter keinem guten Stern. Mit einer unbedachten Bewegung renke ich mir beim Anziehen den rechten Arm aus (was mir seit einem Unfall mit 19 Jahren alle paar Monate mal passiert). Die üblichen höllischen Schmerzen, einen Kreislaufkollaps gibt es diesmal gratis dazu, so dass ich ohnmächtig umkippe. Zum Glück war ich schon in der Hocke, so dass es nur eine kleine Beule gibt. Auch hat sich der Arm dabei wieder eingerenkt. So ist zwar der Adrenalinspiegel hoch, der Schreck weicht aber schnell der Erleichterung: Alles gut, es kann gelaufen werden…

Jeder wird zum Start namentlich ausgerufen, nach Reihenfolge der Zielankunft. Folglich dauert es bei uns, bis wir über die Startlinie dürfen...
Jeder wird zum Start namentlich aufgerufen, nach Reihenfolge der Zielankunft. Folglich dauert es bei uns, bis wir über die Startlinie dürfen…

Heute steht mit fast 53 Kilometern denn auch die Königsetappe an. Itta hatte aus dem letzten Jahr berichtet, dass die langsameren Läufer ab dem zweiten Tag eine halbe Stunde früher starten dürfen. Wir fragen uns durch, irgendwie scheint es das aber heuer nicht zu geben, oder wir fragen die falschen Leute. Folglich starten wir am Ende des Feldes, jeder Läufer wird am Start namentlich aufgerufen. Die Cut-offs für heute geben uns eine 7:20er-Pace für das erste Drittel, eine 7:40er-Pace für das zweite und eine 8:15-er Pace für das letzte Stück – jenes mit der berühmten „Rampe“ –  vor.

Das klingt entspannt für uns, aber der Schreck ist groß, als wir an dem Zwischen-VP vor dem ersten Cut-off sehen, dass wir drei Minuten im Minus sind. Wie das? Wir sind doch wieder fast 6:30er-Tempo gelaufen?! Ach so… verdammt: die Cut-offs sind reale Uhrzeiten, im heutigen Fall 12:37 Uhr bei Kilometer 16,15 – die 7:20er-Pace bezieht sich auf den Startschuss um 10:30 Uhr, nicht auf unser Loslaufen gut 20 Minuten später. Zählt die Netto-Zeit? Wir wissen es nicht. Riskieren wollen wir es nicht. Das ist auch besser so, wie sich später zeigt… Völlig einvernehmlich ziehen wir das Tempo auf einen Unter-Sechser-Schnitt an. Immerhin sind es nur noch fünf Kilometer bis zum ersten Cut-off heute, fünf entscheidende Kilometer allerdings.

Als der Zielbogen (bei den Cut-off-Zwischenstellen gibt es immer Zielbogen mit Moderator und Musik) nur etwa 200 Meter entfernt in Sichtweite ist, ruft der Moderator „Noch eine Minute bis zum Cut-off!“ Auweia. Wir geben nochmal alles und sprinten wie die Verrückten ins Zwischenziel. Geschafft! Puhhh – das wär es ja jetzt gewesen: wegen Blödheit aus dem Rennen fliegen, nicht wegen läuferischen Unvermögens… Entsprechend gut gelaunt geht es weiter. Zur Stimmung trägt auch bei, dass wir Alex weit und breit nicht erblicken können – denn das heißt, er ist weiter dabei und es läuft ausreichend gut für ihn!

Von elementarer Bedeutung: Unsere Notizzettel mit den einzelnen Cut-Offs. Wichtig war immer die letzte Zeit auf den drei Abschnitten (die Angaben für die Zwischen-VPs sind Richtwerte für die Läufer), denn hier wurde gemessen. Und bei Reißen des Cut-Offs wird rigoros rausgenommen, hatte uns Andreas gewarnt...
Von elementarer Bedeutung: Unsere Notizzettel mit den einzelnen Cut-off-Zeiten bei den diversen VPs (links Kilometer-Angabe, mittig die Uhrzeit, rechts die zum Erreichen der Cut-offs notwendige Brutto-Pace ab Startschuss). Wichtig war jeweils die letzte Zeit der immer drei Abschnitte (die Angaben für die Zwischen-VPs sind Richtwerte für die Läufer), denn hier wurde gemessen. Und bei Reißen des Cut-Offs wird rigoros rausgenommen, hatte uns Andreas Deak gewarnt…

Auf dem zweiten Drittel überholen wir zahlreiche Läufer – ganz ohne die Pace anzuziehen – völlig einmütig traben wir im Siebener-Schnitt durch die Gegend und haben bei km 27 bereits fünf Läufer eingesammelt. Auch sonst gibt es die ein oder andere denkwürdige Begegnung: Ein graubrauner Haufen, über den die Läufer vor mir erschreckt rüberspringen und den ich auf den ersten Blick für die Hinterlassenschaft eines hässlichen Riesenköters halte, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als hässliche Riesenkröte, die – paralysiert von soviel Aktivität um sie herum – stocksteif auf dem Bürgersteig kauert. Für Fotos haben wir heute aber irgendwie keine Muße, unser Cut-off-Trauma sitzt noch zu tief.

Aber wir bauen wieder einen ordentlichen Puffer auf, im letzten Drittel sind die Cut-off-Zeiten trotz der zwei angekündigten Anstiege kein Thema für uns. Die berühmte „Rampe“, ein wenige hundert Meter langer steiler Anstieg vor dem Zielbogen, sprinten wir geradezu hinauf (zu Ehren von Andreas Deak, der hier 2012 ebenfalls einen berühmten Zielsprint einlegte, gehört sich das auch so; ich bin aber froh, dass uns niemand einen Schnaps aufdrängt). Als uns dann auch noch Alex und Itta genau auf diesem Abschnitt auf dem Weg zum Bus entgegen kommen, gibt es großen Jubel in beide Richtungen.

Bei mir große Erleichterung, denn es geht mir – dafür, dass wir heute die 100-Kilometer-Marke gerissen haben, richtig gut. Wahnsinnig k.o. bin ich trotzdem. Alle sind extremst früh im Bett und selbst schnarchende Zimmergenossen haben nichts zu befürchten – Etappenläuferbeine sind einfach viel zu schwer, um irgendjemand damit zu treten.

Samstag, 20. März 2016:
3. Etappe: Badacsony – Balatonfüred – 45,2km
Beim Aufstehen am nächsten Morgen fühle ich mich deutlich weniger fit. Alle Muskeln sind steif, mein Schienbein muckt, meine Füße fühlen sich an wie auf drei Nummern größer angeschwollen. Liegenbleiben wär jetzt soooo schön, denke ich nur. Aber das Aufstehen fällt glaube ich uns allen schwer – außer Jörn offenbar, der früher hoch ist als alle anderen und stur seine Athletikübungen durchturnt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn bewundern oder bescheuert finden soll. Ein bisschen ist es beides.

Vor diesem Tag habe ich am meisten Angst, obwohl es der mit der kürzesten Strecke ist. Denn wir haben, die Muskeln zeigen es deutlich, zwei harte Tage hinter uns, die Etappe ist besonders hügelig und dennoch sind die Cut-off-Zeiten straffer als am Vortag: Bei einer Brutto-Pace von 7:10 ab Startschuss müssten wir zumindest den ersten Teil real bei mindestens 6:30er Pace (inklusive VPs und Pinkelpausen) laufen, wenn wir wie gestern wieder nach Platzierung und damit ca. zwanzig Minuten nach Startschuss starten sollten. Puhhh… Schließlich dürfen wir nicht alle Reserven verbrauchen, denn auch morgen müssen noch 50 Kilometer gelaufen werden.

Aber dann, hurra: Es wird verkündet, dass alle mit einer aktuellen Zwischenzeit von mehr als zwölf Stunden eine halbe Stunde eher starten dürfen. Andrea, Jörn und ich liegen – zwar nur wenige Minuten, aber trotzdem – drüber und haben daher plötzlich ziemlich entspannt Zeit. Alex und Itta dagegen haben unter zwölf Stunden und starten normal. Das zerschießt Andreas Plan, mit Itta zusammen zu laufen und mit ihr als „Hasen“ den Angriff auf Platz 3 ihrer Altersklasse zu starten. Denn nachdem Andrea am Donnerstag Abend nach der ersten Etappe noch nichts von den AK-Platzierungen wissen wollte und die Aushänge ignoriert hatte, hatte sie nun am Vorabend gesehen, dass die aktuell Drittplatzierte nur 18 Minuten Vorsprung hat. Natürlich hatte Andrea damit Blut geleckt: Sie wechselt in den Wettkampfmodus, was entsprechend das Ende unseres Dreierteams zur Folge hat.

Am dritten Tag fand parallel der MarathonFüred statt - die Zuschauerdichte nahm enorm zu. Menche sahen wir mehr als fünfmal an der Strecke, so auch diese beiden "Blauhelme".
Am dritten Tag fand parallel der MarathonFüred statt – die Zuschauerdichte nahm enorm zu. Manche Straßenrandjubler sahen wir mehr als fünfmal an der Strecke, so auch diese beiden „Blauhelme“.

Die ersten Kilometer sind mit den doch sehr steifen Beinen hart, entschädigt werden wir aber vor allem durch großen Unterhaltungswert: An diesem Tag findet parallel der MarathonFüred statt, es sind also wesentlich mehr Zuschauer als an den Vortragen an der Strecke und wesentlich mehr Läufer auf der Strecke. Und durch unseren Frühstart sehen wir sowohl die Marathonläufer als auch Top-Läufer des Etappenlaufs, denn da sie nach uns gestartet sind, laufen sie alle an uns vorbei. Und jeder, wirklich jeder überholende Läufer grüßt uns mit einem enthusiastischen „Hojra!“ (sprich: „Hoira!“), das wir ebenso enthusiastisch zu erwidern versuchen. Dazu kommen die sichtlich begeisterten Zuschauer, von denen wir viele mehrfach am Tag sehen, und die uns durch lustige Optik, „We are the champions“-Gedüdel aus der Blechdose oder voll aufgedrehte Autostereoanlagenmucke motivieren (gespielt wurde eine Art ungarische Version von den Ärzten, sehr antriebssteigernd).

Bei den diversen Hügeln dieser Etappe kommt mir das mit Tom in der Wettkampf-Vorbereitung absolvierte Hügeltraining sehr zugute, auf jeden Fall fallen mir die Anstiege sichtlich leichter als vielen anderen Mitläufern. Der Ehrgeiz ist zudem, sie jeweils hoch zu laufen, und nicht, wie viele andere, zu gehen. Was auch gelingt. Am nächsten Tag werde ich mich allerdings fragen, ob ich nicht einen hohen Preis für diesen Ehrgeiz zahle.

Weiteres Tagesendfazit: Wir hätten die Cut-offs auch ohne die halbe Stunde Vorlauf geschafft, aber es wäre knapp gewesen und ein sehr einsames Rennen kurz vor dem Besenfahrrad. So hatten wir durch die ganzen überholenden Läufer einen hohen Unterhaltungswert, was den Spaß am Lauf deutlich erhöht hat. Coole Sache insofern, mit dem Pre-Start.

Fast geschafft - aber dieser Tag sollte nochmal besonders hart werden: Die LGMler vor dem Start zur vierten und letzten Etappe.
Fast geschafft – aber dieser Tag sollte nochmal besonders hart werden: Die LGMler vor dem Start zur vierten und letzten Etappe.

Sonntag, 20. März 2016:
4. Etappe: Balatonfüred – Siófok – 49,2km
Komischerweise geht es mir an diesem Morgen richtig gut. Die Muskeln sind zwar ebenso steif wie gestern früh, aber das wird sich ja auf den ersten Kilometern wieder geben. Sollte dieser 4-Tage-Etappenlauf dermaßen unproblematisch für mich zu Ende gehen? Natürlich nicht.

Heute darf jeder früh starten, der möchte. Früh heißt in diesem Fall halb acht, unser Frühstück findet um 5.30 Uhr statt, wirklich nicht meine Sache… Angedenks Toms Vorträgen, dass man so etwas (=mitten in der Nacht mehr als eine Banane frühstücken ohne sich beim Laufen übergeben zu müssen) als Ultraläufer halt können müsse, wenn man nicht vorzeitig schwächeln will, trotze ich meinem inneren Widerwillen.

Schöne Sache: Nach dem Lauf die dicken Füße in den eiskalten See halten.
Schöne Sache: Nach dem Lauf die dicken Füße in den eiskalten See halten.

Andrea, Jörn, Alex und ich nehmen den Pre-Start, nur Itta startet im Hauptfeld. Unsere kleine Kampf-Möhre Andrea hat sich bis auf drei Minuten und fünf Sekunden auf die Top-3-AK-Platzierte herangearbeitet und ist fest entschlossen, sich diese Minuten heute zu holen. Alex will ganz ungestört in seinem Tempo laufen, was dazu führt, dass er immer ein Stück mit mir und Jörn läuft, wieder nach hinten abfällt, uns dann aber wieder einholt. Das geht über weite Strecken so, irgendwann erkenne ich ihn nicht nur am Laufgeräusch, sondern auch am Schattenumriss. Nach dem ersten Cut-off bei Kilometer 14,6 passiert das allerdings nicht mehr – auwei, hoffentlich musste er nicht so „kurz“ vor dem Ziel doch noch aussteigen…

Bis Kilometer 20 läuft bei mir alles ganz gut. Wir sehen viele Zuschauer von gestern, genießen die tolle Sonne, die sich am Vortag etwas zurückgehalten hatte und freuen uns auf den angekündigten Ausblick auf dem Plateau, das wir uns durch einen steilen Anstieg allerdings noch werden hart erarbeiten müssen. Und dann ist es plötzlich so, als hätte jemand den Stecker gezogen. Das rechte Knie tut zunehmend weh, und obwohl der erste Anstieg relativ seicht ist, ist hochlaufen plötzlich keine gute Idee mehr. Jörn läuft vor, ich gehe hinterher. Bergab ist allerdings noch schlimmer und gefällt dem rechten Schienbein überhaupt nicht. Ich quälte mich zunehmend voran, bei Kilometer 25 frage ich Jörn, ob wir überhaupt vorwärts kommen. Ich meine, ich weiß, dass wir vorwärts kommen, aber es fühlt sich nicht so an. Und die 25 Kilometer, die noch fehlen, erscheinen mir länger, als alles andere, was bisher auf diesem Etappenlauf zu laufen war. Ich habe keinen Schimmer, warum mir vor einigen Stunden morgens noch alles so leicht erschien… Jörn gibt sich alle Mühe, mich mit Durchhalteparolen bei Laune zu halten. Die Sprüche selber bewirken nicht viel, aber ich weiß die Intention zu schätzen. Dennoch sind die folgenden zehn Kilometer die schlimmsten des ganzen Rennens.

Kurz nach Kilometer 30 geht es nochmal richtig steil bergauf. Ich wandere sie rauf. Jörn läuft, sagt aber an, oben zu warten. Dort wartet auch Zeitnahme Nummer 2 heute, also der bekannte Torbogen mit Moderator und namentlicher Ansage. Freundlicherweise hinter einem Straßenknick, so dass kurz davor anfange zu laufen und somit zumindest des „Ziel“einlauf genieße. Danach geht die Quälerei weiter. Es geht immer ein bisschen hoch und runter, vor allem abwärts tut das rechte Schienbein fies weh, in den Schmerz auch noch reinzulaufen, kann nicht gesund sein. Also lasse ich es. Wo ist eigentlich dieses blöde Plateau? Wir sind zwar oben, aber ein toller Ausblick lässt auf sich warten. Kilometer 34, 35, 36 – puhhh… Sollte das nicht eigentlich Spaß machen? Und wie wird es Alex mit dieser Etappe gehen, der sich gestern auch wieder sehr gequält hatte? Ist er überhaupt noch im Rennen? Und wie läuft es für Itta, würde sie uns gleich überholen?

Große Wiedersehensfreude hoch oben: Auf dem berühmten Aussichtsplateau treffen wir auf Alex und Itta (oder vielmehr sie auf uns).
Große Wiedersehensfreude hoch oben: Auf dem berühmten Aussichtsplateau treffen Jörn und ich auf Alex und Itta (oder vielmehr sie auf uns).

Als hätte sie das gehört, taucht plötzlich Itta neben mir auf, ein großes Hallo erfolgt. Wir fragen besorgt nach Alex, aber Itta lacht nur, und meint, wir sollten uns doch einfach mal umdrehen… Es stellt sich raus, dass Itta Alex kurz vorher bei der Zeitnahmestelle eingeholt hat und sie den Rest zusammen laufen wollen. Guter Plan. Wir schließen uns sofort an. Und weil wir jetzt auch das berühmte Plateau mit der tollen Aussicht erreicht haben, nehmen wir uns auch noch minutenlang Zeit für ein paar schöne Fotos.

Es wäre untertrieben zu behaupten, dass mein rechtes Schienbein nicht mehr wehtut, aber die Euphorie über das Zusammentreffen mit den Vereinskollegen wirkt gerade besser als jedes Schmerzmittel. Trotzdem gehen wir die Downhill-Passagen – Alex Knie findet das auch besser.

Etwa einen Kilometer bevor wir im Ziel sind, führt die Laufstrecke wieder am Wasser lang, und wir können in der Ferne den Moderator hören. Unser Blick schweift über den See – Wahnsinn, sind wir hier tatsächlich einmal drumherum gelaufen? Wir können nur erahnen, wie weit das ist, das andere Ufer ist nicht ansatzweise zu erkennen: Wasser, soweit das Auge reicht… Längst laufen wir alle wieder, und zwar gar nicht langsam… Wir überlegen, ob Andrea uns im Ziel empfängt, und ob sie die notwendigen Minuten rausgeholt hat. Wir ermahnen uns gegenseitig, diese letzten Minuten zu genießen: Wir haben 195 Kilometer hinter, aber nur noch wenige hundert Meter vor uns – wie oft kommt das schon vor?

Und dann sehen wir Andrea mit schussbereitem Handy im Zielbereich stehen, ihr breites Grinsen lässt keinen Zweifel daran, wer die Drittplatzierte in ihrer Altersklasse geworden ist. Unser Jubel kennt kein Halten mehr und der Moderator ruft unsere Namen auf. Worte können nicht beschreiben, wie es war, zumindest meine nicht. Das Foto gibt zumindest einen groben Eindruck… Ansonsten kann ich nur empfehlen, es mal selber auszuprobieren ;-).

Happy End: Egal, was vorher war: Der Zieleinlauf hätte schöner nicht sein können.
Happy End. Egal, was vorher war: Der Zieleinlauf hätte schöner nicht sein können.

Epilog: Zur Feier des Tages kühlen wir unsere Beine im Balaton, trotzdem meckert mein Schienbein noch Tage später. Als wollte es sich für den Etappenlauf mit einem Etappenschmerz rächen. Mittlerweile sind aber die vier Tage locker um, ich finde, insofern reicht es jetzt auch. Immerhin warten ja noch viele tolle Events dieses Jahr, zum Beispiel der Rennsteig und auch ein Etappenlauf, diesmal zum Brocken. Ich freu mich drauf :-).

Mein Fazit zum ersten Etappenlauf:

  • Es war richtig toll.
  • Morgens wieder loslaufen tut erstmal weh. Das geht zwar nicht allen, aber vielen so. Nicht nur den Anfängern ;-).
  • Speziell die Balaton-Umrundung ist gut geeignet für den Etappenlauf-Einstieg, ein Kinderspiel ist es aber nicht – zumindest für diejenigen, bei denen die erforderliche Pace nahe (und nicht deutlich über) ihrer üblichen 50-Kilometer-Lauf-Geschwindigkeit liegt.
  • Es ist durchaus nicht unmöglich, drei Tage lang denselben Ohrwurm zu haben und auch davon nur einige Zeilen und den Refrain.
  • Fies früh frühstücken kann ich jetzt, mag ich aber immer noch nicht.

Text: Sonja Schmitt; Fotos: Jörn Künster, Andrea Möhr, Sonja Schmitt