Es scheint ein Lauf der Extreme zu sein: Mit fast 40 Grad im Schatten war der Thüringen-Ultra (TU) im Jahr 2015 als „Glut-Ultra“ in die jüngere Laufgeschichte eingegangen. So ein Wetter bitte 2017 nicht, wünschten Tom und ich, als wir Ende vergangenen Jahres beschlossen, den diesjährigen TU als Jahreshöhepunkt und mein 100km-Debüt auf den Plan zu nehmen. Aber wie heißt es noch gleich? „Vorsicht vor Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen“. Und so war es auch hier – der Wunsch wurde uns erfüllt: Ein Glut-Ultra war der Lauf dieses Jahr keineswegs, dafür sollten wir ihn – mit mehr als sechsstündigem Dauerregen bis mittags und partiellen Schauern nachmittags – als Schlamm-Ultra in Erinnerung behalten…

30. Juni 2017 – Der Tag davor:

In Berlin spät gestartet, aber trotz sich ewig ziehenden Baustellen noch früh genug in Fröttstädt angekommen, um im Hellen das Zelt aufzubauen und mit den Vereinskollegen Nina, Harald, Jörn, Jörg, Olaf und Matthias in der Abendsonne auf den Lauf anzustoßen. Keine Wolke weit und breit, das Wetter wiegt uns in trügerischer Sicherheit.

The beer before: Noch schnell ein Bier mit den Vereinskollegen – und dann ab ins Bett…

Später liegen wir im Zelt, ich kann nicht schlafen – wie immer, wenn ich weiß, dass ich unbedingt schnell schlafen sollte, weil der Wecker so früh (in unserem Fall um 3 Uhr) klingeln wird. Also kreiseln meine Gedanken fröhlich vor sich hin: Ob das Training reicht? Viel war es nicht gerade… Rückblickend sind wir nur in der Rennsteigwoche auf mehr als 70 Wochenkilometer gekommen. Bergtraining? Wenig. Doppeldecker? Einer. Immerhin, Gritta hatte sich kürzlich ihren ersten 100er hauptsächlich erwandert, und das in 19 Stunden. Der Cut-off beim TU liegt bei 18 Stunden, das müsste also doch irgendwie zu schaffen sein…

„Mach dir doch nicht so einen Kopf darüber, das ist total sinnlos“, sagte Tom jedes Mal, wenn ich ihn in den vergangenen Tagen an meinen Gedankenspielen teilhaben ließ. Jaja, das sagt der Richtige, als wenn er das mit den sinnlosen Gedanken nicht auch hervorragend könnte. Nur halt nicht, was das Laufen betrifft. Aber ich schweife ab.

1. Juli 2017 – Der Tag der Wahrheit

Von zwölf bis zwei schlafe ich ein bisschen, dann bin ich wieder wach, einschlafen lohnt sich nicht mehr. Ich liege also rum und mache mir wieder sinnlose Gedanken. Was, wenn es regnet? Die Wetter-App zeigt Regen ab acht an, für mehr oder minder den ganzen Tag. Ihh. Um halb drei krabbelt Tom aus dem Zelt, er will nur mal zum Klo. Er kommt aber nicht wieder. Nach 20 Minuten ziehe ich mich an, packe meinen Kram und gehe auch mal zum Bad. Im Anschluss finde ich Tom im Frühstücksraum – „Oh sorry, Bill hat gerade von Nepal erzählt, das war so spannend, dass ich hängen geblieben bin.“. Natürlich, darüber kann man die Frau schon mal vergessen… „Wir wollten doch sowieso erst um drei aufstehen.“ Ja, schon klar. Egal. Keine sinnlosen Gedanken machen. Der Vorteil: Jetzt ist es erst kurz nach drei und ich bin praktisch startbereit.

Dunkel war´s, das Gelb schien helle: LGM-Startfoto um 3:59 Uhr.

Schnell lasse ich mir von Tom noch seine Zweit-Regenjacke geben und stopfe sie energisch in meinen mit Ersatzshirt (plastiktütenverpackt), Notfallfolie und Stirnlampe gut gefüllten Fünf-Liter-Rucksack. „Ich kann die Regenjacke auch bei mir drin lassen“, bietet Tom an, der einen größeren Rucksack hat, zudem mit Reißverschluss. Ich lehne dankend ab, ich will diesmal die wichtigen Sachen bei mir haben, was ist, wenn er mir beim Lauf wieder „abhanden“ kommt, so wie beim SoNut oder beim Müritz-Lauf?

Wir frühstücken (nachtstücken trifft es besser) Kaffee und Käsebrötchen, gegen viertel vor vier wuselt alles gen Startlinie, wo sind die anderen Gelben? Als endlich halbwegs alle beisammen sind, der Schock bei Helga: Ihr Zeitmess-Chip ist weg, war wohl nicht richtig befestigt. Sie bekommt zum Glück schnell einen neuen, jetzt ist es allerdings fast vier Uhr, ich mache auf den letzten Drücker ein Startfoto um 3:59 Uhr. Kaum ist das Handy wieder verstaut, geht es los.

Ab in den Thüringer Wald!

km 1: Der erste Kilometer führt durch das Dorf, dessen Bewohner erstaunlich wach sind, viele Fackeln säumen den Wegrand, das sieht toll aus.

km 3: Der LGM-Trupp zeigt einen erstaunlichen Zusammenhalt, Nina und ich vorn, alle anderen hinterdrein und dahinter noch viele, viele andere Läufer. Dagegen ist vor uns ein ganzes Stück niemand, daher komme ich mir beim Umdrehen vor wie Forrest Gump.

Auf den ersten Kilometern…

km 5: Gegen halb fünf geht die Sonne auf, das ist gut, denn nachdem die ersten Kilometer über eine flache, kleine, glatte Landstraße geführt haben, geht es jetzt in den Thüringer Wald.

Ich schlage mich kurz in die Büsche. Wieder raus ist Tom nur wenige Meter weiter vor, der Rest ist weitergetrabt, aber so schnell, dass wir sie nicht einholen, auf Zwischensprint haben wir auch keine Lust. Egal, das Feld wird sich ohnehin noch sehr auseinanderziehen über die Strecke.

Einer der schönsten Streckenabschnitte kommt gleich am Anfang: Inselsberg in der Morgensonne.

km 8: Einer der schönsten Streckenabschnitte, auf den Großen Inselsberg zu. Ende Mai sind wir noch darüber gelaufen. Leider verschwindet der Gipfel in dicken Wolken.

km 10: Der erste VP. Wir sehen den LGM-Trupp gerade am Horizont verschwinden, wollen aber nicht hinterher sprinten, sondern nehmen aber lieber in Ruhe Getränke zu uns. Diese Etappe war lang, aber es war ja auch die erste. Die nächsten VPs liegen alle nur 5 bis 6 Kilometer auseinander, insgesamt gibt es 18 Stück. Das sollte doch reichen.

km 18: Wir sind noch keine drei Stunden unterwegs, als es gegen sieben Uhr anfängt zu regnen, und das gleich ziemlich heftig. Der Horizont: dunkel, kein heller Fleck. Das wird länger dauern. Tom hatte seine Jacke an, kaum dass die ersten Tropfen gefallen waren. Wie hatte er mir vor zwei Jahren geschrieben, als sein Nachtlauf-Finish durch anhaltenden Wolkenbruch „ins Wasser gefallen“ war: „Ich mag alles außer Regen.“ Ich kriege zwar keine Muskelprobleme, aber wer läuft schon gerne durchgeweicht? Also hole ich ebenfalls die Regenjacke raus. Das heißt, ich WILL sie rausholen. Sie ist aber nicht da… Sch… die muss wieder rausgefallen sein, weil der Rucksack zu voll war. Oder ich sie nicht tief genug reingestopft hatte. Egal. Fakt ist: Sie ist nicht da. Und ich bin jetzt schon nass.

Es fängt an zu regnen. Und es regnet und regnet….

km 21: Am VP nochmal in Ruhe geguckt. Nein, da ist nichts. Nur das Shirt und die Notfalldecke. Nicht mal die Stirnlampe. Ist die etwa auch rausgefallen? Das ist mir aber gerade fast egal, es ist bis 22 Uhr hell und Cut-off ist um 22 Uhr, die brauche ich also nicht unterwegs. Aber noch Stunden im Regen ohne Regenjacke…? Tom guckt mich betroffen an, aber er kann ja nun nix dafür. Hätte ich sie mal doch bei ihm dringelassen… Das tiefste mentale Tief des ganzen Laufs. Ich könnte heulen. Aber, auch hier wieder: Diese Gedankenspiele nützen nichts, überhaupt nichts. Es regnet, ich bin nass, und das einzige was hilft ist: laufen. Laufen, um so lange wie möglich nicht kalt zu werden. Ich versuche mich damit zu trösten, dass ich wenigstens nicht dauernd überlegen muss, ob ich die Jacke an- oder ausziehe. Man mag das Mentaltraining nennen, eigentlich ist es mehr mentaler Selbstbetrug. Aber vielleicht glaubt ja etwas in mir dran. Meine Ausrüstung für die fehlenden 79 Kilometer: Kurze Hose, T-Shirt, eine Softshell-Weste und wasserdichte Gore-Tex-Schuhe.

km 25: Wasserdicht? Von wegen! Keine halbe Stunde später sind meine Füße pitschnass. Sind halt schon ältere Schuhe, so eine Membran hält vielleicht nicht ewig. Oder es läuft einfach von oben rein, nass genug ist es. Aber noch sind wir ganz am Anfang, die Strecke läuft sich gut, ich versuche mich auf das positive Jetzt zu konzentrieren, statt mich vor potenziellen Problemen später zu fürchten.

km 30: Der Körper läuft zunehmend automatisiert, mein Gehirn nimmt außer Laufrhythmus und Regen nicht mehr viel wahr – da ist es vielleicht nur folgerichtig, dass ich alsbald ein aktuell gern von meiner Tochter Pauline (7) vor sich hin geträllertes Lied als Ohrwurm habe: „Hörst du die Regenwürmer husten, wenn sie durchs dunkle Erdreich ziehen? Wie sie sich winden, um zu verschwinden, auf nimmer-nimmer-Wiedersehen…“ Ganz besonders penetrant wiederholen sich in meinem Kopf die zwei folgenden Zeilen, von denen der Kenner weiß, dass sie nicht mal eine sonderlich harmonische Melodie haben: „Und wo sie waren, da ist ein Loch (Loch! Loch!) – und wenn sie wiederkommen, ist es immer noch (noch! noch!).“

„Ich hatte noch keinen einzigen Ultra, auf dem es stundenlang dermaßen geschüttet hat.“ Tom, desillusioniert, bei km 50.

km 40: Uff. Immer noch Ohrwurm. Immer noch Regen. Tom macht letzterer auch zunehmend zu schaffen, trotz Regenjacke. „Wenn es auf der Hälfte immer noch regnet, steigen wir aus.“ Wie jetzt? Ich finde den Regen auch scheiße, aber ernsthaft übers Aussteigen habe ich – zumindest noch – nicht nachgedacht. Dumm nur: Meine Schuhe sind gefühlt voller Wasser, bei jedem Schritt macht es „platsch“. Ich stoppe an einem Unterstand und versuche es rauszukippen – aber es sind offensichtlich dann doch einfach nur Schuhe und Socken vollgesogen mit Wasser. Das Platschen dürfte also bleiben. Mist.

km 41: Ich muss an Harald denken, der sich extra wasserdichte Socken besorgt hatte, um nicht das Problem von nassen Füßen zu haben: „Da kriegst du dermaßen Blasen, da kannst du ein Finish auf der Distanz gleich vergessen“, hatte er gestern noch betont. Also was tun? Fakt ist: Ich kann nichts tun. Außer wiederum Mentalprophylaxe betreiben. Also sage ich mir: Das mit dem „Nässe-gibt-Blasen“ weiß Harald. Das wissen die meisten Ultra-Läufer. Aber woher sollen meine Füße das wissen? Die sind ja schließlich nicht „in der Szene“. Also verrate ich es ihnen einfach nicht. Vielmehr sage ich ihnen, dass das ständige Wieder-Treten in eine gefühlte Wasserpfütze doch wie eine Kneippkur und daher sehr angenehm sei. Offenbar glauben meine Füße mir, denn am Abend werde ich nur eine einzige Blase haben – und die von einem Stein im Schuh, die hätte ich ziemlich sicher auch mit trockenen Socken gekriegt. Mentaler Selbstbetrug ist super!

km 43: Tom sagt praktisch nichts mehr, und wenn, grummelt er, dass er Genussläufer sei und man sich sowas nicht antun müsse. Er überlegt kurz, seine Regenhose überzuziehen, beschließt aber, dass sich das nicht mehr lohnt. „Dir ist auch kalt, du hast ganz blaue Lippen, und die Wegverhältnisse werden immer schlimmer, bei dem nächsten großen VP gehen wir raus!“ – Ich hör wohl nicht richtig! „Ich will nicht aufhören, ich lass mich doch nicht sechs Stunden durchregnen, um dann mit einem DNF nach Hause zu gehen!! Und hör auf, immer wissen zu wollen, wann ich noch kann und wann nicht!“

Wenn ich wie Tom bereits verschiedene 100er, einschließlich des 100-Meilen-Mauerweglaufes, absolviert hätte, oder zumindest am VP eine heiße Badewanne oder eine Sauna auf mich gewartet hätten, hätte ich dem Angebot vielleicht irgendetwas abgewinnen können. Aber der Gedanke, da nass rumzustehen und ewig auf einen Bus zu warten, reizt mich gar nicht… Auch wenn die Aussicht auf noch mehr schlammige Wege – gerade die kleinen, steileren, zum Teil sehr rutschigen Wege bergab – alles andere als angenehm ist.

Ein Tunnel! Endlich mal 100 trockene Meter…

km 46: Ein neuer VP: „Wenn man aussteigen will, wo geht das?“ fragt Tom einen Helfer. „Ihr wollt aussteigen?“, fragt ein Läufer neben uns. „Er will aussteigen. Ich nicht!“, blaffe ich meinem verdutzten Gegenüber etwas zu energisch entgegen. Tom schaut mich mit großen Augen an, Motto: „Die hat ja einen Knall, aber wahrscheinlich bin ich selber schuld.“ Jedenfalls erhalten wir die Auskunft, dass der kommende VP bei km 54 eine Zeitnahme habe und man dort aussteigen könne. Ich bin fest entschlossen, das nicht zu tun. Es geht mir gut und ich will das auf jeden Fall probieren. Ab dem Wechselpunkt ist es ja quasi nur noch ein Marathon.

km 54: Den großen Wechselpunkt Floh-Seligenthal erreichen wir nach etwas über sieben Stunden. Tom friert und lässt sich – durchgeweicht wie er ist – nicht erweichen weiterzulaufen. Ich bin auch durchgeweicht, friere aber nicht wirklich (die Softshell-Weste hält den Rumpf bisher warm, auch wenn das T-Shirt drunter nass ist). Deswegen schlage ich auch Toms Angebot aus, seine Regenjacke gegen meine Weste zu tauschen. Würde ich die dann ausziehen, weil mir drunter zu heiß wird (was bei mir und Regenjacken schnell passiert), hätte ich nur noch ein nasses T-Shirt an und würde garantiert frieren. Das ist mir zu riskant. Also bleibe ich bei Shirt und Weste. Tom spendiert mir noch einen feuchten Kuss zu meinen feuchten Klamotten und entfleucht, um sich vom Rennen abzumelden.

Beim Weitergehen entdecke ich ein Hinweisschild „WCs“. Juhu, eine Toilette mit Sitz! Zudem befinden sie sich an einer Turnhalle. Hier gibt es Bänke und ich entscheide mich, das T-Shirt zu tauschen. Das wird zwar unter der Weste sofort wieder feucht, ist aber immerhin nicht so pitschnass wie das andere. Beim Umziehen bemerke ich, dass ich die ganze Zeit meine Stirnlampe um den Hals getragen hatte. Ohne das zu merken. Das hätte mich doch irre machen müssen! Aber nein, von nix was gemerkt. Wahrscheinlich bin ich schon irre, die Lampe fiel da einfach nicht mehr ins Gewicht.

km 55: Losgelaufen im neuen Shirt. Komisch, es regnet gar nicht? Super, vielleicht bleibt das ja so? Dafür geht es jetzt kilometerlang praktisch nur bergauf. Gut, dann nicht rennen, ich wandere hauptsächlich.

km 56: Die Sonne kommt raus! Die Sonne! Unglaublich, welch große Freude so ein prinzipiell profanes Ereignis auslösen kann.

km 58: Es regnet wieder. Mist.

km 59: Mini-VP am Ende der Bergetappe. Kurzer Blick auf die Ankündigung: Nächster VP in neun Kilometern. In neun?! Das ist aber sch…. Ok, nicht zu ändern. Weiter im Text bzw. mit dem TU. Ich überhole mich mehrfach gegenseitig mit zwei Männern, die ich „die Ampelmännchen“ taufe, weil der eine eine rote und der andere eine grüne Regenjacke trägt. Großer Wiedererkennungswert.

km 63: Oh, die Ebertswiese. Riesen-VP beim Rennsteiglauf, heute nur leer. Und nass. Und traurig anzusehen im Regen. Sehr glitschig ist es außerdem. Aber immerhin ist der Regen jetzt nur noch ein gelegentlicher Schauer und nicht mehr von Dauer. Nach sieben Stunden Wolkenbruch ist man dankbar für Kleinigkeiten.

km 68: Der VP hat ein Megafon: „Und da kommt Sonja Schmitt, Sonja, wie schön, dann kann ja jetzt die Sonne wieder scheinen!“ Es ist nicht sonderlich originell, aber irgendwie nett ist es trotzdem. Und die Sonne scheint tatsächlich wieder. Grinsend mache ich mich über den VP her. Da steht plötzlich Nina neben mir: „Ist Tom dir wieder abgehauen?“ – „Nee, der ist ausgestiegen.“ – „Echt? Harald auch. Nix los mit unseren Männern. Laufen wir zusammen?“ – „Wenn dir das nicht zu langsam ist?“ „Quatsch, ich bin seit Haralds Ausstieg extra 5:30er Pace gelaufen, um jemand einzuholen, mit dem ich zusammen laufen kann.“

„Mann mit spitzem Hut direkt voraus“, hieß es an VP km 71 – das musste Jörn sein, mit Isi.

km 70: Damit ist mein letztes Drittel gerettet, denn zugegebenermaßen beginnt es nun, deutlich anstrengend(er) zu werden. Offenbar weiß mein Körper doch genau, wie weit ich bisher maximal gelaufen war… Bei km 71 der nächste VP: „Oh, schon wieder Berliner, gerade waren schon zwei von euch hier – ein Typ mit einem spitzen Hut und ein Mädchen.“ Das müssen Jörn mit seinem Rennsteig-Käppi und Isi sein – wer läuft sonst schon mit spitzem Hut?

km 73: Tatsächlich, bald haben wir sie eingeholt und ein lustiges, wiederkehrendes gegenseitiges Überholmanöver beginnt. Leider beginnt es auch wieder, länger zu regnen, wenn auch nicht so stark wie am Morgen.

km 75: Aufgeregt zupfe ich Nina am Ärmel: „Ich überschreite gerade meine bisherigen Maximalkilometer! Das war der Müritzlauf letztes Jahr mit 75 Kilometern.“ Nina guckt auf ihre Uhr und kontert trocken: „Auf meiner sind es erst 74,3km. Da musst du schon noch ein bisschen weiterlaufen.“ Menno.

km 80: Ab jetzt wird es nochmal deutlich schwerer, und es ist immer noch nass und ich hätte das erste Mal wirklich Lust aufzuhören. Theoretisch. Praktisch verschwende ich natürlich keinen Gedanken daran, es tut zwar weh jetzt, aber das Ziel ist in „greifbarer“ Nähe. Zugegebenermaßen gehen wir mittlerweile so viel, wie wir laufen. Ich frage Nina, ob sie nicht doch vorlaufen möchte: „Quatsch, ich würde auch den ganzen Rest mit dir wandern, wenn du willst.“

Anstoßen auf die zusätzlichen zwei Kilometer, die wir gerade gewonnen haben: Mit Nina am VP bei km88… äh km86.

km 88: Wir erreichen einen total schönen VP mit Bank und in der Sonne. Das einzig Unschöne: Meine Uhr gibt zwar km 88 an, dem Schild und den Aussagen der VP-Helferinnen zufolge sind wir erst bei dem offiziellen…

km 86: Bäh! Also sind es noch 14 Kilometer statt nur noch zwölf. Das ist an diesem Punk des Laufs schon sehr deprimierend. Aber es hilft nichts. Wir schnappen uns jede Menge Frustschokolade und laufen weiter – gleich erstmal den falschen Weg hoch. Unsere Ampelmänner rufen uns hinterher. Glück gehabt, so war es nur ein Umweg von 200 Metern…

km 94: Die Musik vom VP bei km 95 im Gewerbegebiet Waltershausen ist schon von weitem zu hören. „Dahin müssen wir jetzt laufen“, bestimmt Nina, und das machen wir, na klar, wer will schon als Walker vom Megaphon begrüßt werden. Apropos begrüßt, wir werden als „Hallo Sonja, und – äh Axel?“ begrüßt – dumm, wenn die Startnummer von der Regenjacke so abgeschrabbelt ist, dass der Sprecher nur noch raten kann. Egal: Großer Jubel, man könnte glatt meinen, es ist schon der Zieleinlauf. Doch auch wenn die Ziellinie noch fünf Kilometer entfernt ist: Die Begeisterung der Volunteers pusht nochmal so richtig. Das ist auch gut, denn die kommenden drei Kilometer durchs Industriegebiet sind sehr, sehr öde. Dennoch zwinge ich mich immer wieder anzutraben, denn…

km 99: …schließlich sind wir gleich da! Da, ein Schild, km 99! „Soll ich ein Foto machen?“ fragt Nina. „Bist du verrückt, ich laufe doch grade so schön!“, grinse ich. Nee, jetzt will ich „nach Hause“.

km 99,5: Wir laufen durch ein kleines Gässchen. An dessen Ende stehen unsere beiden Ampelmänner. Die letzten Kilometer waren sie immer ein Stück weit vor uns. Jetzt halten sie am Streckenrand, lassen uns charmant den Vortritt und machen eine La Ola nur für uns. Danke Jungs! (Im Nachhinein stellt sich übrigens heraus, der eine von ihnen war TU-Hauptorganisator Gunter Rothe – kein Wunder, dass sie uns vorgelassen hatten, wären sie vor uns angekommen, hätte wohl keiner mehr richtig Notiz von uns genommen….;-))

Die letzten 500 Meter laufe ich locker, wie im Rausch (schade, dass das nicht auf den letzten 5.000 Metern schon ging!). Wir biegen um die Ecke und sehen die Ziellinie, an der viele der schnelleren Läufer, Staffelläufer und Begleiter stehen und uns im Näherkommen zujubeln. Unter ihnen sind auch Tom und Harald, die längst wieder trocken sind…

Mein erster Stern! Und das Finisher-Shirt sieht fast aus wie unser Vereins-Shirt…

km 100 – im Ziel!: … und uns stolz in die Arme nehmen. 14 Stunden, 40 Minuten und 23 Sekunden nach dem Startschuss. Ein Zwerg von höchstens zweieinhalb Jahren hängt mir meine Medaille um, dafür muss ich mich ganz schön tief bücken, was gar nicht mehr so einfach ist. Tom ist stolz wie Bolle und kriegt sich gar nicht mehr ein – zu Recht, immerhin hat er diese läuferische Entwicklung ja angetreten. Trotzdem muss er noch kurz ohne mich auskommen, denn ich will eigentlich grade nur noch eins: nämlich möglichst schnell unter eine möglichst heiße Dusche. Aber eine Sache muss zuvor noch sein – Nina und ich holen uns unsere verdienten Finisher-Shrts. Knallgelb mit schwarz sind sie in diesem Jahr, von weitem sehen sie aus wie die LGM-Vereinsshirts. Ich bin happy – mein erster Stern!

2. Juli 2017 – Der Tag danach:

– Nina hat mich gewarnt, dass man die Nacht nach dem 100er zwar todmüde sei, aber dauernd wach werde, weil einem alles wehtue. Was soll ich sagen, sie hat Recht. Trotzdem schlafe ich insgesamt immerhin etwa fünf Stunden, also deutlich mehr als die Nacht davor. Zum Glück muss ich nachts nur einmal aus dem Zelt, und zum Glück ist es dunkel und alle schlafen, so dass mich keiner dabei sieht…

– Ich frage Tom, ob er auf dem Gelände irgendwo die Regenjacke gefunden habe, die mir aus dem Rucksack gefallen ist. „Die ist dir nicht aus dem Rucksack gefallen“, murmelt er. Hä? Es stellte sich raus: Das was ich eingepackt hatte und wir für die Regenjacke gehalten hatten, war seine Regenhose gewesen. Die zweite Regenjacke war die ganze Zeit bei ihm im Rucksack…

Fazit meines ersten 100ers:

        1. Es kann im Training und noch am Start alles passen und dann tut man sich beim Lauf unheimlich schwer (vgl. Berlin-Marathon 2015). Umgekehrt kann man offenbar auch suboptimal vorbereitet sein, miese Bedingungen vorfinden und einen super Lauf haben. Warum auch immer.
        2. Ohrwürmer sind fies. Regen(-Ohr-)würmer noch fieser: Jetzt beim Schreiben, da hab ich ihn immer noch (noch! noch!).
        3. Typische Reaktion auf die Aussage, dass man vor Kurzem seinen ersten 100er gefinisht habe:
            a) „Normale“ Menschen: „Wow. Äh… Bist du sicher, dass das gesund ist? Also ich könnte das niemals, normal ist das ja nicht.“
            b) Ultra-Läufer: „Wow. Äh… Meinst du jetzt 100 Kilometer oder 100 Meilen?“

    In diesem Sinne: Es gibt immer neue Herausforderungen ;-).

  1. Feucht-fröhliche 100km-Finisherinnen: Mit Nina direkt nach dem Zieleinlauf.

     

    Text: Sonja Schmitt
    Fotos: Helga Brokat, Sonja Schmitt, Thomas Meier

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