„Nicht, dass ich gerne einen Stoppelbart hätte. Oder braune Augen haben wollte oder vor XXL-Läufen bei der LGM kneifen, deren Gpsies-Laufstrecke ich vorher mit viel Liebe zum Detail, Höhenmetern und diversen Singletrail-Abschnitten selbst erstellt habe. Aber dennoch: In diesem Moment wünsche ich mir, ich wäre Harald. Denn der hätte Spaß daran, mit Tom diese Hänge im Erzgebirge runterzuknallen. Hänge, die für Mountainbikes gedacht sind. In der Ausschreibung heißt es: „Der Parcours – eigentlich exklusiv für Mountainbiker vorgesehen – kann zum SachsenTrail wieder von euch erobert werden. Aber wirklich nur an diesem Tag!“

Und ausgerechnet an diesem Tag bin ich nun hier… Harald hätte ja Spaß daran, über Steine zu springen und über Baumwurzeln zu hechten, und das alles auf einem Gefälle, das einer Abenteuerspielplatzrutsche zur Ehre gereicht hätte. Stattdessen laufe ich dort und habe leider keinen Spaß, sondern vornehmlich Angst auf die Schnauze zu fallen. Aber das kommt davon, wenn man einen Mann hat, der gerne auf Trails rumrennt. Und wenn man ein bestimmtes Finisher-Shirt zu toll findet.

Was zuvor geschah:
Obwohl ich von mir glaube, nicht den allergrößten Wert auf Äußerlichkeiten zu legen, fand ich Toms Finishershirt vom Sachsentrail (er war da 2016 mit Jörn) so schön, dass er im vergangenen Jahr bei mir mit seinem Vorschlag, 2018 gemeinsam dort zu starten, offene Türen einrannte. Und ich freute mich sogar auf die beschriebenen „schmalen Pfade, steilen Anstiege und wundervolle Laufkulisse“.

Allerdings überkam mich am Vorabend des Laufes, als der Veranstalter beim Briefing die Strecke nochmal beschrieb („steile Abhänge“, „lose Steine“, „quer liegende Äste“, „viele Baumwurzeln“, „Stürze in den Vorjahren“) dann doch das große Gruseln. Wie sollte das enden, wenn ich es sogar schaffe, mir beim Brötchenholen den Ellenbogen anzubrechen? Ja verdammt, eine Mountainbike-Strecke ist halt kein Fahrradweg…

Hätte mir vielleicht klar sein müssen, heißt es doch in der Ausschreibung: „Der Sachsentrail ist genau das, was richtige Trailprofis als Jahreshöhepunkt oder als Vorbereitungswettkampf für noch härtere Events benötigen“. Aber ich hielt das für das übliche Werbepalaver: Trailprofis! Nur die Harten komm´in´Garten! Jaja. Klaar… Dass es mehr ist als Gewäsch, hätte mir der folgende Fakt sagen können: Die Finisher der 70km-Strecke beim Sachsentrail kriegen vier Quali-Punkte für den UTMB… Aber zu spät:

30. Juni 2018:

6:50 Uhr: Wir fallen vom Frühstückbuffet quasi direkt in den Startbereich, auf dem Gelände des Sportparks Rabenberg sind die Wege kurz. Deutlich kürzer jedenfalls, als die 70,3 Kilometer Wettkampfstrecke, die uns erwarten, und auch deutlich flacher als die 1810 Höhenmeter zwischen Start und Ziel.

Verkleidet als Trailläuferin – der Gesichtsausdruck gibt nur grob wieder, wie ich mich kurz vor dem Start fühle…

Immerhin ist meine veritable Panik vom Vorabend der unvermeidlichen Resignation gewichen – am Ende siegte bisher noch immer mein Pragmatismus über diffuse Gefühligkeiten, sprich: Mag ich im Vorfeld auch heulen und fluchen und mich vor meinem inneren Auge steinige Felsen hinabpurzeln sehen – aber wenn ich mich freiwillig für einen Lauf angemeldet habe, dann starte ich auch. Doch von Vorfreude keine Spur – also bei mir. Alle anderen im Starterfeld glühen offenbar in freudigster Erwartung. Aber die sehen von Figur, Statur und Frisur auch alle wie Trailläufer/innen aus, während ich mich ja nur als solche verkleidet habe! Unter anderem mit meinen neuen Salomon-Schuhen (angedenks eines Erlebnisses in der Frühe dieses Laufjahres) und dem unvermeidlichen (Haar-)Gummi (angedenks eines Erlebnisses in der Frühe meiner Langlauf-„Karriere“).

7:00 Uhr: Der Startschuss fällt, wir traben verhalten los und lassen alles, was auf den ersten Kilometern ordentlich Gas geben will, vorbeiziehen. Glücklicherweise schickt man die Läufer, anders als noch vor zwei Jahren, zunächst über breite Wege, damit sich das „Feld entzerrt“. Anders gesagt: Damit versehentlich im hinteren Feld gestartete, übermotivierte Laufkanonen nicht vor ihnen gestartete Rohrkrepierer auf dem steil nach unten führenden Singletrail aus dem Weg bomben.

Statt Stock & Stein hier mal grün & geradeaus.

7:10 Uhr: Das Elend nimmt seinen Anfang, auf den nächsten Kilometern kommt der besagte Wunsch in mir auf, Harald sein zu wollen. Immerhin weiß ich Tom direkt hinter mir, so dass ich mir relativ sicher sein kann, dass mir keiner hinten in die Hacken tritt und mich auf das Nicht-Fallen konzentrieren kann. Gleichzeitig bemühe ich mich, halbwegs angemessen schnell zu laufen, damit ich niemand ausbremse und sich keine Schlange wütender Überholwilliger hinter mir bildet. Oder ich trete kurz an die Seite, wenn wirklich jemand vorbei will.

7:35 Uhr: Noch immer Single-Trail, aber weniger schräg und bebaumwurzelt. So macht das richtig Spaß. Naja, außer dass die beiden Mädels direkt vor mir vor lauter Gequassel über ihre Instagram-Follower fast vergessen zu laufen, so dass Tom und ich direkt hinter ihnen kleben und ein paar weitere Läufer wiederum direkt hinter uns. Stört die beiden nicht: „Du, die XY hat jetzt schon 300 Follower, die hätte ich auch gern…“ Ja, dreh dich mal um, Mädel, dann würdest du sehen, dass du schon mehr Follower hast, als du denkst…!

Aber gerade, als ich überlege, zu einem gewagten Überholspurt anzusetzen, auch ohne dass die beiden mal zur Seite treten, erhöhen sie plötzlich kurzfristig ihr Tempo, und springen sogar lustig in die Luft. Hä? Ach so, da unten hockt ein Fotograf. Der auch gleich willig drauflosknipst – bei Tom und mir, die wir direkt hinter ihnen vorbeikommen, natürlich nicht mehr. Es warten noch zwei weitere Fotografen direkt im Anschluss. Das schienen die beiden Mädels genau zu wissen, denn sie posierten bei jedem lustig und wegeinnehmend rum – und sobald wir alle drei hinter uns gelassen hatten, ließen die beiden uns willig überholen. Und warden auch im Rest des Tages nicht mehr gesichtet. Offenbar war mit den erbeuteten Fotos ihr wichtigstes Tageswerk vollbracht…
[Wer mal bildlich die sich laufend social-media-optimierende Vorläuferin mit ihren leicht entnervten, nicht virtuellen Followern sehen möchte, klicke mal hier….].

7:45 Uhr: Wir kommen am ersten VP vorbei, rechts unten neben uns ein hübsches Flüsschen mit dem hässlichen Namen Schwarzwasser, der Weg ist recht breit mit wenig Auf und Ab. Die Entspannungsphase hält bis zum zweiten VP bei km 13. Anschließend heißt es: Ab in den Graben! Nämlich den Grenzgraben zwischen Tschechien und Deutschland. Ein sehr schmaler Graben, in dem man nicht mal den eigenen Fuß neben den anderen setzen kann. Single-Trail spezial! Oh Mann, was machen die in Jahren, in denen es regnet? „Spürt euren Willen!“ heißt es in der Ausschreibung. Ja, ich spüre ihn – ich will ganz gerne aufhören. Aber wer immer das macht, was er (gegenwärtig) will, kommt bei einem Ultra nie ins Ziel. Isso.

Grenzgraben

Bergauf geht es beim Grenzgraben für uns auch – unsere Durchschnitts-Pace hat sich mittlerweile bei über 8 min/km eingependelt – wenn das so weiter geht, schaffen wir das ja nie zum Cut-Off. Was nicht stimmt, da der erstens bei zwölf Stunden und nicht, wie von mir zu jedem Zeitpunkt gedacht, bei zehn Stunden liegt; zudem erwarten uns auf dem Mittel-Teil in Tschechien – Wunder über Wunder – Streckenabschnitte, bei denen wir knapp 5er-Pace laufen können. Denn die Tschechen haben weite Teile der über ihr Landesgebiet führenden Laufstrecke im Frühjahr frisch asphaltiert  – zum Entsetzen des Veranstalters, der dies erst (wie er uns am Abend erzählen wird) am Freitag vor dem Lauf erfuhr… Auch die Trail-Puristen sind vermutlich fassungslos. Ich, tja. Ich bin froh über die Erholungsphase.

10.45 Uhr / 12:00 Uhr / 13.20h etc.: Erholung bieten auch immer wieder die tollen und zahlreichen VPs (neun Stück sind über die Strecke verteilt), die mit diversen Getränken und Snacks auch mit Unterhaltung durch aufmunternde (?) Schilder aufwarten. Mich dünkt, hier war ein Fußball-WM-Begeisterter respektive -Enttäuschter am Werk, steht doch bei VP 5 beispielsweise: „Wenn du so weiter läufst, bist du in der Vorrunde raus!“

Wir ließen uns davon nicht beeindrucken und machten in unserem (also heißt in meinem) Tempo weiter – mein maßgebliches Ziel war ja ohnehin, heil die Strecke zu überstehen. Ich habe mich dann auch tatsächlich nur einmal auf die Nase gelegt, ziemlich am Anfang, als Tom rief: „Guck mal, da hat jemand seine Sohle verloren!“ Ja, was guck ich auch dahin!  Im Nachhinein überlege ich, ob vielleicht dieser Vollkörper-Bodenkontakt gemeint war mit der Ausschreibungs-Beschreibung „Werdet eins mit der Natur!“ – ?

Aber immerhin bin ich mit der freudigen Erkenntnis gefallen: Es gibt auch weich gepolsterten Trailboden – Moos in dem Fall. Dennoch bleibt es besser, wenn ich beim Trail-laufen auf meine Füße gucke. Das ist zwar weniger lässig, aber auch weniger gefährlich (für mich). Auch wenn man so schöne Aussichten, die man auf der Strecke hat, verpasst. Jedenfalls kommt mir am Sonntag auf der Rückfahrt wenig bekannt vor, was Tom mir unter dem Hinweis „Darauf hatten wir gestern von der Strecke aus einen schönen Blick!“ zeigt.

15:20h: Gegen Kilometer 60 kommt nochmal eine fiese Mountainbike-Passage bergab, auf der mir Tom abhanden kommt, weil er gar nicht so langsam bergab laufen kann, dass ich dranbleiben könnte. Nachdem die durch ist, bin ich es auch. Trotzdem hole ich Tom (auf flachen Strecken kann er auch mal wandern) nach einer Weile wieder ein und zum Glück sind es jetzt nur noch wenige Kilometer ins Ziel, in das wir nach neun Stunden, neununddreißig Minuten und neun Sekunden einlaufen. Dann mal: Lächeln, Bier schnappen und mit dem Wissen, es geschafft zu haben, mit Sonne über, Bier vor und Mann neben sich auf der Bank lang machen. So macht Wettkampf Spaß!

Mein Fazit zum Sachsentrail:

  • Ausschreibungen sind nur bedingt glaubwürdig. Manches übertreiben sie. Manches untertreiben sie. Manches verraten sie nur zwischen den Zeilen. Vorher lesen sollte man sie trotzdem.
  • Meldet euch niemals vornehmlich wegen eines in den Vorjahren bewunderten Finishershirts zu einem Lauf an. Die Enttäuschung könnte groß sein. Das bisherige Sachsentrail-Finisher-Shirt (mit Läuferprint und wirklich cooler schwarz-orange-grün Farbkombi) gab es nur noch im XXL-Format. Alle anderen bekamen das neue: quietschegrün mit weißem Aufdruck „Sachsentrail“ . Was wegen der geschwungenen Schrift und stilisierten Berg voran von weitem aussieht als stünde dort „Mädchentrail“. Na hurra.
  • Mittlerweile bin ich wieder ganz gerne ich statt Harald. Zumindest bis zum nächsten Trail ;-).“

Text: Sonja Schmitt
Fotos: Sonja Schmitt, Tom Schmitt

 

 

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